Über Patientenschelte

Zu guter Letzt
Ausgabe
2017/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05470
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(13):422

Affiliations
PD Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft

Publiziert am 29.03.2017

Ich erinnere mich mit Freude an eine Karikatur: In ­einem Restaurant blicken zwei altgediente Kellner auf die adrett gedeckten, noch unbesetzten Tische. Sagt der eine zum anderen: «Jetzt kommen sie gleich wieder und bekleckern alles.» Zyniker behaupten ja, Restaurants würden am besten ohne Gäste und Fluggesellschaften perfekt ohne Passagiere funktionieren.
Drei Tage vor dem letzten Fest des Friedens auf Erden lieferte ein Hausarzt in dieser Zeitschrift eine «Polemik» gegen «Den Neuen Patienten» (DNP) [1] – und seiner Kollegenschaft war es mehrheitlich ein Wohlgefallen. Die Schelte lautete in etwa so: DNP wolle immer alles und sofort und sei dabei selber bequem; DNP 
sei hypochondrisch und eigensinnig, wolle es besser wissen und sei falsch informiert; DNP sei dem Arzt undankbar und untreu; DNP kümmere sich nicht um die Krankenkassenkosten und sei daher unsolidarisch; DNP sei u.a. von Walk-in-Praxen auf die schiefe Bahn gebracht worden.
Ärzte, die sich über ihre Patienten ärgerten, haben ­solche «Neuen Patienten» (gleich welchen Geschlechts) allerdings auch früher schon immer wieder neu entdeckt. Eine – noch zu schreibende – «Geschichte der ­Patientenschelte» gäbe ein ebenso dickleibiges wie kurzweiliges Werk ab.
Der Würzburger Physiologieprofessor Adam Andreas Senfft (1740–1795) zum Beispiel beschimpfte 1781 das Landvolk in einem für ebendieses geschriebenen Buch als «dumm», «blind», «einfältig», «albern», «unverständig» und «undankbar». Diese Patienten seien Hypochonder. Sie hätten «keine Geduld» und erwarteten zu «geschwinde Linderung», warteten aber gleichzeitig zu lang, bis sie zum Arzt gingen [2]. Die Wortwahl erscheint uns extrem, war damals aber kein Einzelfall.
Als Nebenwirkung solcher Schimpftiraden unter dem Deckmantel der Gesundheitsaufklärung erhofften sich die damaligen Ärzte übrigens auch eine respektablere Position auf dem Gesundheitsmarkt.
In den 1920er Jahren bereicherte vor allem der deutsch-völkische Chirurg Erwin Liek (1878–1935) das Vokabular extremer Patientenbeschimpfung. (Kassen-)Patienten waren für ihn «Schmarotzer». Liek diagnostizierte bei ihnen Entartung, seelische Verweichlichung sowie «moralische Verlumpung» [3].
Der damals viel beklatschte medizinalpolitische Rundumschläger Liek machte das Kassenwesen dafür verantwortlich. Patientenschelte eskortierte so den gezielten Angriff auf den Sozialstaat.
Jede Zeit kennt damit ihre eigenen Handschriften und Härtegrade der Patientenschelte. Doch es ziehen sich auch rote Fäden durch ihre Geschichte. Etwa der Vorwurf, dass Patienten nicht das denken und tun, was Ärzte ihnen sagen. Die angenommenen Verursacher des Patienten-Eigensinns allerdings passen sich der Zeit an. Was früher «alte Frauen» waren, sind heute eher Web-Apps, wenn früher die «Kurpfuscher» die Gegner waren, sind es heute mehr die Walk-in-Praxen.
Auch Senfft polterte über den «Ungehorsam» der Pa­tienten: Ein umsonst behandelter Tagelöhner etwa, der am Miserere litt, war «dumm und eigensinnig», weil er sich statt der vom Arzt verordneten erweichenden Umschläge auf Anraten einer «alten Frau» heisse, trockene Hafersäckchen über den Leib gelegt hatte. Senffts Kommentar dazu: «Ich verlohr die Lust, ihn ferner zu besorgen, […] denn wirklich habe ich den Fehler, dass ich Leute, die nicht folgen, auch nicht mehr lieben kann. […] Er starb, so wie es sich gebührte.» – Das Argumentationsfeld der Patientenschelte ist offensichtlich medizinethisch abschüssig.
Nichtsdestotrotz können wir uns die Patientenschelte als eine ärztliche Tradition und Kunst vorstellen, die in unterschiedlichen Gewändern zum festen literarischen Genre heranreifte. Eine ars longa sozusagen, womit wir bei Hippokrates angekommen wären. Vielleicht sollte sie deshalb in einem zukünftigen Ärzteeid einen Platz erhalten oder in die Fortbildung integriert werden.
Der Arztberuf steht dabei nicht allein. Andere Metiers haben ihre eigenen Varianten: Peter Handke etwa hat die «Publikumsbeschimpfung» vor einem guten halben Jahrhundert mit seinem gleichnamigen Theaterstück zu einer eigenen Kunstform erhoben.
Übrigens hatte auch der Urvater aller FMH-Präsidenten, Jakob Laurenz Sonderegger (1825–1896), seine liebe Mühe mit den Patienten, die ihm immer wieder «desertirten». Sonderegger aber verweigerte sich der Kunst der Patientenbeschimpfung, als er meinte: «Es giebt nichts Leichteres als den Umgang mit Patienten; denke Dich an ihre Stelle und Du verstehst sie.» Es war ihm offenbar bewusst, dass er selber auch schon medizinische Restaurant-Tische bekleckert hatte.
eberhard.wolff[at]saez.ch