Wer über «Gesundheitskosten» spricht, meint nicht selten ausschliesslich die prämienfinanzierten Kosten der Grundversicherung. Damit wird ausgeblendet, dass 62% des Gesundheitswesens nicht über Prämien finanziert werden. Auch den Prämienanstieg mit dem Kostenanstieg gleichzusetzen ist falsch, denn die Prämien steigen stärker als die Kosten. Prämien und Kosten müssen darum unterschieden werden, wenn es um politische Schlussfolgerungen geht.
Steigende Krankenkassenprämien und Gesundheitskosten sind eine zentrale Herausforderung der Gesundheitspolitik. Die immer weiter zunehmenden Möglichkeiten der Medizin und der hohe Stellenwert der Gesundheit in unserer alternden Bevölkerung haben Kostenfolgen und fordern eine gute politische Gestaltung, damit nicht vor allem einkommensschwache Haushalte darunter leiden. Es braucht also gute Lösungen – und darum auch gute und differenzierte Analysen.
Gute Lösungen brauchen gute Analysen
Wenig zuträglich für gute Lösungen ist es jedoch, wenn die Entwicklung rund um die Prämien und Kosten für politische Ziele instrumentalisiert wird. Diesen Eindruck erweckte zuletzt ein «Faktenblatt» des Bundesamts für Gesundheit (BAG) [1] wie die NZZ am Sonntag darlegte [2]: Es zeigt eine Grafik mit steilem Prämienanstieg (Abbildung 1, links), um anschliessend eine staatliche Budgetierung per «Zielvorgaben» als Lösung zu präsentieren. Die dargestellte «Standardprämie» betrifft jedoch als höchstmögliche Prämie 85% der Bevölkerung gar nicht und ist zudem deutlich stärker gestiegen als die real bezahlte mittlere Prämie. Zusätzlich verzerrt die indexierte BAG-Grafik die Grössenverhältnisse: Der Anstieg der Standardprämie um 253 Franken (von 212 auf 465 CHF) innerhalb von 18 Jahren erscheint darin um ein Vielfaches grösser als der BIP-Anstieg um 19 285 Franken (von 65 193 auf 84 478 CHF) im gleichen Zeitraum. Informativer wäre eine Darstellung der Haushaltseinkommen und Krankenkassenprämien im realen Massstab gewesen (Abbildung 1, rechts). Damit könnte man aber vermutlich kaum jemanden von der Notwendigkeit eines Globalbudgets im Gesundheitswesen überzeugen.
Gute Analysen liefern ein Gesamtbild
Das «Faktenblatt» zeigt jedoch nicht nur fragwürdige Indikatoren in Grossaufnahme – es blendet vor allem eine zentrale Information aus: den Unterschied zwischen Prämien und Kosten. Obwohl es dem Titel zufolge um eine «Zielvorgabe für die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen» geht, behandelt es ausschliesslich die prämienfinanzierten Kosten. Es beschränkt sich damit auf die 38% der Gesundheitskosten, die über die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) finanziert werden – setzt aber diese «Ausgaben in der OKP» (2020= 31,6 Mia) mit den «Kosten im Gesundheitswesen» (2020= 83,3 Mia) gleich. [3] Damit bleibt nicht nur ein Unterschied von 51,7 Milliarden Franken unerwähnt – es hat auch wichtige Folgen für politische Schlussfolgerungen.
Die Prämien steigen stärker als die Kosten
Gerade wenn es um die Entwicklung der Kosten geht, wäre es wichtig, zwischen Gesamtkosten und den prämienfinanzierten OKP-Kosten zu unterscheiden. Wie Tabelle 1 zeigt, sind die Gesamtgesundheitsausgaben pro Kopf und Monat seit 1996 um 82% gestiegen – während sich die mittlere OKP-Prämie mit 146% mehr als verdoppelte. Wir haben es hier folglich mit zwar zusammenhängenden, aber sehr unterschiedlichen Entwicklungen zu tun. Die Prämien steigen stärker als die Kosten – der Prämienanstieg kann damit nicht allein auf den Kostenanstieg zurückzuführen sein.
Tabelle 1: Anstieg der Gesamtkosten und der OKP-Prämien seit 1996.
1996
2020
Anstieg
Anstieg Gesamtkosten [3] (Gesamtgesundheitsausgaben pro Kopf und Monat in Franken)
443
804
+81,5%
Anstieg Prämien [4] (Mittlere OKP-Prämie pro Kopf und Monat in Franken)
128
315
+146,1%
Es ist also nicht nur irreführend, wenn das BAG von einem «nationalen Gesamtkostenziel» spricht, obwohl es damit lediglich 38% der Kosten meint. Den Begriff einer «Zielvorgabe für die Kostenentwicklung im schweizerischen Gesundheitswesen» synonym zu einem «Gesamtkostenwachstumsziel in der OKP» zu verwenden, verschleiert vor allem die unterschiedliche Entwicklung von Gesamtkosten und OKP-Kosten – und vermeidet Fragen nach den Gründen.
Wir finanzieren immer mehr über Prämien
Abbildung 2 zeigt einen wichtigen Grund, warum die Prämien stärker steigen als die Kosten – und warum es irreführend ist, ausschliesslich die Prämienentwicklung anzusehen. Während die OKP-Prämien bei der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes noch 29,9% der Gesundheitskosten finanzierten, sind es heute 37,9%. Die Prämien steigen folglich auch, weil wir immer mehr über Prämien finanzieren. Das «Faktenblatt» des BAG unterschlägt diese Information leider. Es fokussiert den Prämienanstieg, lässt aber unerwähnt, dass von diesen Prämien heute ein deutlich grösserer Anteil der Versorgung bezahlt wird als früher. Würden wir immer noch wie im Jahr 1996 lediglich 29,9% des Gesundheitswesens über die Prämien finanzieren, wären die Prämien heute um 21% niedriger.
Prämienfinanzierung wird zunehmen
Dass wir einen wachsenden Anteil des Gesundheitswesens über die OKP und Steuergelder finanzieren, bedeutet für die Haushalte eine höhere Prämien- und Steuerlast und eine geringere Bedeutung privater Zahlungen. In Zukunft wird die Verlagerung von Behandlungen aus dem steuersubventionierten stationären in den prämienfinanzierten ambulanten Bereich dazu führen, dass der prämienfinanzierte Teil der Gesundheitsversorgung noch grösser wird. Die zunehmende Finanzierung über einkommensunabhängige Kopfprämien wird vor allem einkommensschwache Haushalte überproportional belasten. Gute politische Lösungen für ein sozialverträglich finanzierbares Gesundheitswesen müssen darum zwingend das Finanzierungssystem als Ganzes betrachten: Wer die Prämienentwicklung dämpfen möchte, muss zuerst verhindern, dass die Prämienzahlenden einen immer grösseren Teil der Gesamtrechnung erhalten. Dieser Zusammenhang bleibt aber unsichtbar, wenn man ausschliesslich – wie im BAG «Faktenblatt» – die OKP-Prämien beleuchtet.
OKP-Prämien – höher als OKP-Leistungen
Die OKP-Prämien spiegeln also nicht die Gesamtkosten, genaugenommen spiegeln die OKP-Prämien nicht einmal unmittelbar die OKP-Kosten, wie Abbildung 3 zeigt. Die bezahlten Prämien übersteigen seit 1996 fast immer die Nettoleistungen der OKP. Dies ist schon allein wegen der Administrativkosten unvermeidbar – das Verhältnis zwischen Prämien und Leistungen schwankt aber. Teilweise waren Prämienerhöhungen auch «auf den notwendigen Reserveaufbau» zurückzuführen, den das BAG z.B. für das Jahr 2018 explizit einforderte [5]. Nach einem starken Anstieg der Reserven auf 12,3 Milliarden Franken im Jahr 2021 erachtete der Bundesrat das «Niveau der Reserven (…) als übermässig» [6] und ermöglichte den Versicherern per Verordnungsänderung die Prämien knapper zu kalkulieren. Die Höhe der OKP-Prämien folgt somit nicht nur den OKP-Kosten, sondern auch den politisch bestimmten Vorgaben.
Zusammenfassung und Fazit
Der besondere Fokus der politischen Diskussion auf die Krankenkassenprämien ist verständlich, weil dieser Teil der Gesundheitskosten für die Bevölkerung am direktesten spürbar ist. Der Prämienfokus gibt aber auch Raum für politische Instrumentalisierungen. So kann mithilfe überzeichneter Darstellungen der Prämienentwicklung Druck im Sinne politischer Ziele aufgebaut werden. Vor allem verstellt der Prämienfokus aber den Blick aufs Ganze: Ausschliesslich auf die Prämien zu schauen, legt bestimmte politische Schlussfolgerungen nah – und rückt andere aus dem Blickfeld. Besonders irreführend ist es, wenn die Prämien sogar mit den Kosten gleichgesetzt werden. Dies unterschlägt nicht nur einen Unterschied von 52 Milliarden Franken und verschleiert, dass sich OKP-bezogene Massnahmen lediglich auf 38% der Kosten richten – es lässt auch die Entwicklung dramatischer erscheinen, als sie ist: Denn die Prämien steigen stärker als die Kosten.
Gerade wenn es um die Kostenentwicklung geht, ist also der Unterschied zwischen Prämien und Kosten entscheidend. Eine Gleichsetzung von Prämien und Kosten blendet Fragen nach der Finanzierung aus und schadet damit ganz besonders einkommensschwachen Haushalten, denn diese würden unter einer weiter zunehmenden Finanzierung über Kopfprämien besonders leiden. Zwischen Kosten und Prämien liegt ein längerer, politisch gestalteter Weg. Wer diesen Weg im Sinne der Prämienzahlenden gestalten möchte, muss Finanzierungsfragen angehen, statt sie auszuklammern. Zu der seit zehn Jahren diskutierten Lösung einer einheitlichen Finanzierung findet sich beim BAG aber leider kein aktuelles Faktenblatt mit Grafiken zum steilen Prämienanstieg.
Korrespondenz
nora.wille[at]fmh.ch
Literatur
1 Eidgenössisches Departement des Innern EDI / Bundesamt für Gesundheit BAG; Abteilung Kommunikation und Kampagnen; Faktenblatt Zielvorgabe für Kostenentwicklung im Gesundheitswesen; 19. August 2020