Damit weniger Frauen sterben

Wissen
Ausgabe
2023/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21430
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(04):78-79

Publiziert am 25.01.2023

Gendermedizin Frauen mit akutem Koronarsyndrom haben ein hohes Sterberisiko, das nicht sein sollte. Denn nicht alle erhalten die optimale Behandlung. Wieso ihre Situation bisher falsch eingeschätzt wurde – und wie sich das ändern kann.
Wie schlimm steht es wirklich um das Herz meiner Patientin? Bei Personen mit akutem Koronarsyndrom (ACS) ohne ST-Strecken-Elevation (NSTE) ist es wichtig, das Risiko für den weiteren Verlauf richtig einzuschätzen. Denn nur so können Patientinnen und Patienten mit unklaren Beschwerden im Brustbereich die passende Therapie erhalten. Aktuelle Leitlinien [1, 2] empfehlen den Score zur Risikoabschätzung GRACE (Global Registry of Acute Coronary Events) 2.0. Doch dieser ordnet zu wenige Frauen der Hochrisikogruppe zu.
Forschende aus Zürich, London und Graz haben nun die Aussagekraft des GRACE-2.0-Scores für weibliche wie männliche NSTE-ACS-Patienten neu evaluiert. Mithilfe von künstlicher Intelligenz wurde der GRACE-3.0-Score entwickelt und validiert [3]. Prof. Dr. med. Christian Müller, Chefarzt und Leiter der klinischen Forschung und stationären Kardiologie am Universitätsspital Basel, kennt die Studie und betont die Bedeutung dieser, wie er sagt, «sehr wichtigen» Arbeit mit prominenter Schweizer Beteiligung: «Diese Studie zeigt einen Weg auf, wie die prognostische Genauigkeit dieses Risk-Scores weiter erhöht werden kann.»
Ziel der multinationalen Studie war es, die geschlechtsbezogene Trennschärfe in Bezug auf das Sterberisiko im Spital bei NSTE-ACS-Patienten und -Patientinnen zu bewerten – und zwar in vordefinierten, klinisch bedeutsamen GRACE-Risikokategorien (Mortalitätsrisiko ≤3%: mittel bis niedrig; Mortalitätsrisiko >3%: hoch). Als primärer Endpunkt war «Versterben im Spital» definiert.
Woman's hands over her chest
Der GRACE-3.0-Score berechnet das Risiko für Frauen mit unklaren Beschwerden im Brustbereich neu.
© Kmiragaya / Dreamstime

Zu selten eine invasive Therapie

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben festgestellt: Der GRACE-2.0-Score stuft das Risiko für Frauen geringer ein als jenes für Männer. Deshalb wird bei Frauen seltener eine frühzeitige Koronarangiografie durchgeführt, um mittels dieser bildgebenden Untersuchung die Situation einzuschätzen. In der Folge erhalten Frauen seltener eine invasive Therapie, selbst wenn diese angezeigt wäre. Dies vor dem Hintergrund, dass Frauen im Vergleich zu Männern bei Spitaleintritt schwerwiegendere Risikofaktoren, zum Beispiel höheres Alter, aufweisen [3].
Ein Teil der NSTE-ACS-Patientinnen wurde also bisher fälschlicherweise der Gruppe mit mittlerem bis niedrigem Risiko zugeordnet, wodurch diese Personen ein erhöhtes Risiko hatten, im Spital zu sterben. Weiter zeigte sich, dass Frauen mit einem NSTE-ACS seltener mit Thrombozytenaggregationshemmern und Statinen versorgt werden und länger im Spital bleiben.
Um die Risikobewertung bei Frauen zu verbessern, haben die Forschenden den GRACE-2.0-Score weiterentwickelt, wobei die Modellparameter dieselben blieben. Für den GRACE-3.0-Score wurden sie jedoch geschlechtsspezifisch gewichtet. Die Ursprungskohorte (MINAP) [4] enthielt nach Geschlecht aufgeschlüsselte Daten von 400 ​054 Patientinnen und Patienten aus Grossbritannien. 80% der Datensätze wurden als Trainingskohorte eingesetzt, um Vorhersagemodelle zu trainieren. 20% der Datensätze dienten der internen Validierung der Modelle. Dass auch für GRACE 3.0 nur rund ein Drittel der Daten von Frauen stammen, erklärt Prof. Müller damit, dass Männer doppelt so häufig an einem Herzinfarkt erkranken wie Frauen. «Damit ist der Datensatz für Männer immer grösser. Die jetzige Studie hat diesen Punkt mit der ausgesprochen grossen Fallzahl gut ausgeglichen.»
Mithilfe eines überwachten maschinellen Lernansatzes wurden die interindividuellen Abweichungen und Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Patienten in das Risikomodell eingebracht. Die externe Validierungskohorte (AMIS Plus und SPUM-ACS) [5, 6] umfasste 20 727 Patientinnen und Patienten aus der der Schweiz.

Neubewertung des Risikos

Der neue Ansatz führt tatsächlich zu einer Veränderung bei der Bewertung des Risikos von NSTE-ACS-Patientinnen. Prof. Müller: «Auch wenn Frauen in der Risikobeurteilung noch etwas benachteiligt sind, so ist der Unterschied doch klein. Für Männer und Frauen funktionieren sowohl der bisherige Score als auch die neue Variante sehr gut. Möglicherweise liegt die zwar insgesamt sehr gute Performance bei Frauen, aber eben noch etwas Bessere bei Männern an zwei Details.» Er zählt auf: «Erstens weisen Frauen häufiger unterschiedliche Subtypen eines Herzinfarktes auf. Zweitens sind Frauen zum Zeitpunkt des Herzinfarktes im Schnitt sieben Jahre älter als Männer. Mit dem Alter nimmt die Häufigkeit an Begleiterkrankungen zu, welche das Risiko für Tod unabhängig vom Herzinfarkt erhöhen. Dazu gehören Malignome, Infektionen, Frailty und Demenz. All dies geht nicht in den Score ein.»
Und er fügt hinzu: «Mit entsprechenden Biomarkern könnte das Risiko noch umfassender bewertet werden, hierzu laufen bereits Arbeiten.» Auch weitere Faktoren, beispielsweise Demenz oder Frailty seien geeignet, um noch konkretere Aussagen zum Risiko eines Patienten oder einer Patientin mit akutem Koronarsyndrom machen zu können.
Die Abschätzung des Mortalitätsrisikos mit GRACE 3.0 führte dazu, dass 5-6% mehr Frauen als bei GRACE 2.0 in die Hochrisikogruppe eingestuft wurden. Dies ist von klinischer Bedeutung, denn eine Beurteilung mit dem GRACE-2.0-Score hätte zu einer Einstufung dieser Frauen in die niedrige bis mittlere Risikogruppe geführt. Damit wäre die Indikation für eine frühzeitige invasive Therapie nicht gegeben gewesen. Gleichzeitig wurden mehr Männer der Gruppe mit niedrigem bis mittlerem Risiko zugerechnet [3].
Um eine breite Anwendung zu ermöglichen, soll demnächst ein Online-Rechner für den GRACE-3.0-Score zur Verfügung gestellt werden. Zu diesem Punkt macht Prof. Müller deutlich, dass «der Score in der täglichen klinischen Praxis erst gut funktionieren wird, wenn er automatisch durch die elektronische Krankengeschichte berechnet werden kann. Wir sind gerade daran, dies bei uns zu implementieren.»
Einschränkend zur Anwendung eines Scores zur Risikobeurteilung bei akutem Koronarsyndrom sagt Prof. Müller: «Der GRACE-Score spielt bisher im klinischen Alltag in den meisten Spitälern eine untergeordnete Rolle, weil er nur umständlich berechnet werden kann und weil er keine direkte therapeutische Konsequenz hat.» Weitere Arbeiten müssten daher den Link zwischen der prognostischen Information und den therapeutischen Konsequenzen schärfen.
1 Collet JP, Thiele H, Barbato E, Barthélémy O, Bauersachs J, Bhatt DL, u. a. 2020 ESC Guidelines for the management of acute coronary syndromes in patients presenting without persistent ST-segment elevation. European Heart Journal. 7. April 2021;42(14):1289–367.
2 Amsterdam EA, Wenger NK, Brindis RG, Casey DE, Ganiats TG, Holmes DR, u. a. 2014 AHA/ACC Guideline for the Management of Patients With Non–ST-Elevation Acute Coronary Syndromes: A Report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Practice Guidelines. Circulation [Internet]. Dezember 2014 [zitiert 3. November 2022];130(25). Verfügbar unter: https://www.ahajournals.org/doi/10.1161/CIR.0000000000000134
3. Wenzl FA, Kraler S, Ambler G, Weston C, Herzog SA, Räber L, u. a. Sex-specific evaluation and redevelopment of the GRACE score in non-ST-segment elevation acute coronary syndromes in populations from the UK and Switzerland: a multinational analysis with external cohort validation. The Lancet. September 2022;400(10354):744–56.
4 Wilkinson C, Weston C, Timmis A, Quinn T, Keys A, Gale CP. The Myocardial Ischaemia National Audit Project (MINAP). Eur Heart J Qual Care Clin Outcomes. 1. Januar 2020;6(1):19–22.
5 Schoenenberger AW, Radovanovic D, Windecker S, Iglesias JF, Pedrazzini G, Stuck AE, u. a. Temporal trends in the treatment and outcomes of elderly patients with acute coronary syndrome. Eur Heart J. 21. April 2016;37(16):1304–11.
6 Kraler S, Wenzl FA, Georgiopoulos G, Obeid S, Liberale L, von Eckardstein A, u. a. Soluble lectin-like oxidized low-density lipoprotein receptor-1 predicts premature death in acute coronary syndromes. Eur Heart J. 14. Mai 2022;43(19):1849–60.