Zu guter Letzt
Über die Ware Medizin
Prof. Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft
Bei einer Bahnfahrt fiel mir neulich wieder eine dieser populären Gratis-Medizinzeitschriften in die Hände. Mit vielen Tipps, wie mein Leben noch gesünder würde. Und was ich alles gegen Blasenentzündung, Gelenkschmerzen oder Schlafapnoe machen könne.
Praktisch jeder Beitrag des ganzen Hefts führte zielstrebig darauf hin, Käufliches anzupreisen: ein Granulat gegen die Körperpfunde, ein Gerät gegen das Schnarchen oder einen Kurs, um sich der Natur näher zu fühlen. Der passende Verkaufshinweis, die Produktannonce oder gleich der Bestelltalon folgten umgehend. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass ich meine Artikel nicht auf das Lob eines Konsumprodukts hin schreiben muss.
Bei solchen Medienerzeugnissen mag manchen der abfällige Gedanke an «Geschäftemacherei» oder «Bauernfängerei» beschleichen. Medizin als blosse Ware. Allerdings: Der Kräutertee wird, sobald er abgepackt im Verkaufsregal steht, genau so zur Ware wie das Universitätsspital, das im Tram für sich Werbung macht. Auch der Text, den Sie gerade lesen, ist eine Ware. Ich bin sogar froh, mit dem Honorar dafür unsere Miete für eine Handvoll Tage berappen zu können.
«Kommodifizierung» nennt man den Prozess, dass etwas zunehmend nach Marktgesetzen funktioniert und zu einer Ware – und mehr noch: zu einer Marke, einem «Label» – wird. Nicht erst neuerdings. Bereits zwei Jahrhunderte vor dem Label «Aspirin» entwickelte der Hallenser Medizinprofessor Friedrich Hoffmann sein Markenprodukt, das später «Hoffmannstropfen» genannt wurde. Auch die Mayo-Klinik oder die Charité sind schon seit langer Zeit Marken-Spitäler. Und nebenbei: Meine eigene Marke ist das «Über» am Anfang jedes Zu-guter-Letzt-Titels.
Mit der Kommodifizierung geht die oft gehörte Klage einher, dass die Medizin allenthalben immer mehr ökonomisiert – oder mit anderen Worten: zur Ware – würde. Und dass dabei Werte wie der, Menschen helfen zu wollen, zunehmend unter die Räder der Rechenhaftigkeit gerieten. Als Extrembeispiel gilt etwa der Organhandel.
Das Gegenmodell zur Ökonomisierung ist das der Idealisierung: Etwas Gutes tun. Die leidende Menschheit retten. Das will ich mit meinen Texten übrigens auch. Mit dem Idealismus ist das aber so eine Sache.
Zum einen stehen sich Ökonomie und Idealismus nicht ganz so feindlich gegenüber. Der Kultursoziologe Pierre Bourdieu und seine Nachfolgerschaft meinten (kreativ umformuliert), dass vieles Immaterielle, und dazu zählen auch Ehre, Moralität oder Vertrauen, ebenso «Kapital»-Arten darstellten. Und diese Kapital-Arten würden in unserer Gesellschaft wie in einer Wechselstube ständig umgemünzt. Ansehen zum Beispiel lässt sich in ökonomisches Kapital umwandeln – und andersherum. Nicht nur in der Medizin. Deshalb versuche ich selber ja auch immer, seriös zu schreiben und gelehrt zu tönen.
Zum anderen: Nicht immer sind alle einer Meinung, was denn nun das Wahre, Schöne und Gute sei und wie die Menschen gerettet werden sollen. Ich erinnere mich an einen plastischen Chirurgen, der seine Tätigkeit mit allem Nachdruck ausschliesslich als Dienstleistung verstand, die einer Marktnachfrage nachkomme. Damit schützte er sich davor, seine Tätigkeit in einem für ihn zu engen Korsett von Ethik und Moral rechtfertigen zu müssen. Denken in Marktlogiken kann eben auch schützen oder den Horizont erweitern.
In der Medizin ist eben alles nicht so einfach. Genau so wie im richtigen Leben. Und wenn Sie mehr davon wissen wollen, beachten Sie bitte den imaginär beigelegten Bestelltalon für meine Überlegungen. Ich empfehle die Grosspackung mit Rabattcode – oder am besten gleich das Abonnement.
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