Zu guter Letzt

Der Graben zwischen den Generationen

DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2023.22063
Veröffentlichung: 13.09.2023
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(37):82

Nora Bienz

Letzthin kreuzten der 60-jährige Chirurg Professor Othmar Schöb und ich, eine 37-jährige Intensivmedizinerin und Vizepräsidentin des vsao, im Online-Magazin Medinside [1, 2] die Klingen. Es ging um die Forderung, in den Spitälern die 42-Stundenwoche (plus 4 Stunden Weiterbildung) einzuführen. Die Heftigkeit des Schlagabtauschs und die vielen Kommentare lassen vermuten, dass es hier um mehr als die banale Arbeitszeit geht.

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Nora Bienz

Dr. med., Vizepräsidentin vsao Schweiz, Co-Präsidentin vsao Bern, Oberärztin, Inselspital Bern, Mitglied Advisory Board der Schweizerischen Ärztezeitung

Es sind zwei Welten, die da aufeinanderprallen und zwischen denen sich ein Graben gebildet hat. Mein Kontrahent hat zweifellos eine geballte Kompetenz und enorme Schaffenskraft. So sehr man seine medizinischen Leistungen und Leidenschaft für die Medizin bewundern muss, so sehr ist es auch angezeigt, seine Aussagen kritisch anzuschauen. Herr Schöb ist in seinen Äusserungen nicht zimperlich: «Zerstören des Eliteberufs», «eine verweichlichte, kaum mehr belastbare junge Generation von Ärzten und immer mehr Ärztinnen», «junge Leute, die keine Leidenschaft für den Beruf haben». Der vsao schädige mit seinen gewerkschaftlichen Positionen die Qualität der Ausbildung, führe zu einem völlig überreglementierten Berufsalltag. Diese auf den ersten Blick einfache und überzeugende Argumentation ist meiner Meinung nach falsch.

Seine Assistenzzeit hat Professor Schöb 1988 begonnen. Das Jahr, in welchem verheirateten Frauen in der Schweiz das Recht der freien Berufswahl zugestanden wurde. Der medizinische Berufsalltag hat sich seither drastisch verändert. Herr Professor Schöb ist in einer männerdominierten Chirurgen-Welt gross geworden. Diese Welt hat ihn geprägt und nun lässt er sie mit voller Wucht auf die Spital-Realität 2023 prallen.

Hier hilft nur der geschärfte Blick für die rasanten Veränderungen, die in der Medizin, aber auch in der Gesellschaft vonstattengehen [3]: Die junge Ärzteschaft muss viel mehr administrative Arbeiten erledigen, die Patientenumsatzzahlen zeigen steil nach oben, die Liegedauer hat sich massiv verkürzt und Patientinnen und Patienten sind komplexer krank, wesentlich älter und anspruchsvoller als früher. Dies sind ebenso gewichtige Faktoren. Der Zuwachs an therapeutischen und technologischen Möglichkeiten und die damit einhergehende hohe Spezialisierung kommen hinzu. Die Arbeit im Gesundheitswesen hat sich verdichtet und ist komplexer geworden – die Dienstbelastung von heute ist in vielerlei Hinsicht nicht mehr vergleichbar mit derjenigen von früher.

Gesellschaftlich sind wir aber mit einem mindestens so grossen Umbruch konfrontiert. Mittlerweile ist eine überwiegende Mehrheit erwerbstätig. 1988 waren mehr als doppelt so viele Männer wie Frauen berufstätig. Von damals bis 2022 ist die Anzahl erwerbstätiger Frauen in der Schweiz von 1,37 auf 2,36 Millionen angestiegen [4, 5]. Der Arzt von heute ist immer häufiger weiblich [6] und hat nicht eine Vollzeit-Care-Arbeitskraft zu Hause, die einen reinen Fokus auf die medizinische Tätigkeit erlaubt.

Kann es einen Brückenschlag über diesen Graben geben? Ein erster Schritt wäre, damit aufzuhören, uns gegenseitig falsche oder nicht vorhandene Einstellungen vorzuwerfen [7]. Hier die verweichlichte Jugend, die nur an Freizeit interessiert ist, dort die verknöcherte Generation, die durch ihr Beharren auf alten Strukturen ihre Machtpositionen bewahren will.

Was unsere Generationen verbindet, ist die Faszination und Leidenschaft für die Medizin und der Wunsch, früher wie heute hochstehende Arbeit für unsere Patientinnen und Patienten zu leisten. Wir sollten uns gemeinsam an einen Tisch setzen und auf Augenhöhe und mit gegenseitiger Achtung über nachhaltige Arbeitsbedingungen diskutieren.

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