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«Der Leidensdruck ist gross»
Fibromyalgie Die chronische Schmerzkrankheit ist verbreitet, aber oft unverstanden. Die Rheumatologin Barbara Ankli erklärt, welche neuen Empfehlungen es bei der Diagnose und Therapie zu beachten gilt – und auf welche Forschungserkenntnisse Betroffene hoffen dürfen.
Barbara Ankli, laut einer deutschen Studie [1] vergehen im Durchschnitt 16 Jahre, bis bei einer betroffenen Person die Diagnose Fibromyalgie feststeht. Weshalb tut sich die Medizin mit dieser Krankheit schwer?
Weil es bis jetzt keine strukturellen Veränderungen gibt, anhand derer man die Krankheit objektiv nachweisen kann. Weder im Blut, noch mit Ultraschall oder Röntgenbild finden sich Anzeichen. Wir sind auf die subjektiven Symptome der Patientin oder des Patienten angewiesen, um eine Diagnose zu stellen.


© Andrey Popov / Dreamstime
Was sind typische Fibromyalgie-Symptome?
Führend ist ein generalisierter, grossflächiger, chronischer Schmerz in Sehnen und Muskeln. Zudem treten oft Schlafstörungen, chronische Erschöpfung, Angst, depressive Verstimmungen und Einschränkungen im Alltag auf. Man hat über 100 Symptome gezählt.
Was müssen Hausärztinnen und Hausärzte wissen, um die Krankheit zu erkennen?
Zum einen ist die Differentialdiagnose breit: Viele entzündliche rheumatologische Erkrankungen haben ähnliche Symptome wie die Fibromyalgie. Zum anderen wurden die Diagnose-Kriterien 2016 aktualisiert: Die Schmerzen müssen in vier von fünf Körperregionen vorhanden sei, was die Abgrenzung zu regionalen Schmerz-Syndromen ermöglicht. Und im Gegensatz zu früher kann die Diagnose Fibromyalgie unabhängig von anderen Erkrankungen gestellt werden, es ist also keine Ausschlussdiagnose mehr.
Was bedeutet das?
Ausschlussdiagnose hiess: War etwa bei einer Patientin rheumatoide Arthritis diagnostiziert, gab es bei ihr keine zusätzliche Diagnose Fibromyalgie. Bei manchen Patienten bleiben jedoch die Schmerzen und Erschöpfungssymptome, auch wenn die rheumatoide Arthritis gut behandelt ist. Heute kann man in solchen Fällen eine zweite Diagnose Fibromyalgie stellen und die Krankheit behandeln. Das ist eine grosse Hilfe.
Was sind die Ursachen von Fibromyalgie?
Das ist nicht gesichert. Studien haben gezeigt, dass Betroffene Traumata erlebten oder andere Stressoren schädigend wirken – die Cortisol-Spiegel sind höher als in der Normalbevölkerung.
Und die Traumata führen zu einem veränderten Schmerzempfinden?
Die Schmerzschwelle ist bei Fibromyalgie-Patienten nachweisbar erniedrigt. Es handelt sich um einen noziplastischen Schmerz, zentrale Hypersensitivierung einerseits und periphere Neuropathie andererseits sind hier die Stichworte.
Wie viele Menschen leiden an der Krankheit?
Studien gehen in Europa von ungefähr drei Prozent der Normalbevölkerung aus. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Häufigkeit in den letzten Jahren gestiegen ist.
Besonders häufig betroffen sind Frauen.
Ja. 90 Prozent der in der Rheumatologie zugewiesenen Personen mit Abklärung Fibromyalgie sind Frauen. Aber es ist nicht nur eine Frauenkrankheit. Wenn man in Populationsstudien schaut, wer die Diagnosekriterien erfüllt, sind das nur 60 Prozent Frauen. Männer, so scheint es, werden unterdiagnostiziert.
Weshalb?
Das ist schwierig zu sagen. Vielleicht denken Ärztinnen und Ärzte bei Männern nicht an Fibromyalgie, weil sie als Frauenkrankheit gilt. Zwar gibt es Hinweise auf eine Rolle der Geschlechtshormone bei der Erkrankung. Aber man sollte die Männer nicht vergessen.
Neue Broschüre zu Fibromyalgie
Die Rheumaliga Schweiz hat im Juli eine neue Broschüre zu Fibromyalgie [2] veröffentlicht. Sie deckt von Ursachen, Symptomen und Diagnose bis zur Therapie und Sozialberatung die wichtigsten Fragen rund um die chronische Schmerzerkrankung ab. Ziel ist es, das Verständnis für die Krankheit zu fördern und Betroffenen und Angehörigen eine Orientierungshilfe zu geben.
Sie haben an einer neu erschienenen Broschüre der Rheumaliga Schweiz zu Fibromyalgie [2] mitgewirkt. Was war der Grund für die Neuauflage?
Zum einen die Änderungen der Diagnosekriterien und die Aufhebung der Ausschlussdiagnose. Zum anderen wollen wir Betroffene sowie Ärztinnen und Ärzte über angepasste Therapie-Empfehlungen informieren. Früher empfahl die Ärztin dem Patienten zuerst, selber aktiv zu werden, also seinen Alltag zu strukturieren oder sich mit niedriger Intensität sportlich zu betätigen. Erst in einer zweiten Stufe folgte eine Therapie. Heute setzt man auf einen multimodalen Therapieansatz, um keine Zeit zu verlieren. Mit der Aktivierung des Patienten beginnt sofort auch eine Physiotherapie, eine regelmässige ärztliche Betreuung und wenn nötig eine Medikamentengabe. Bestimmte Antidepressiva und Antiepileptika können beispielsweise dazu beitragen, eine innere Distanz gegenüber Schmerz zu entwickeln und der Hypersensitivierung entgegenzuwirken.
Wie stark leiden die Betroffenen?
Der Leidensdruck bei der Fibromyalgie ist gross. Die Suizidrate ist sehr hoch. Es ist wichtig, dass Hausärztinnen und Hausärzte sich dessen bewusst sind – und das im Gespräch thematisieren.
Weil man bei der Fibromyalgie keine objektiven Ursachen im Körper findet, bekommen Betroffene zum Teil zu hören, sie bildeten sich ihre Krankheit ein. Wie sehr leiden sie darunter?
Sehr. Auch deshalb ist eine psychologische Betreuung von Anfang an wichtig. Und dass sich Betroffene in ein Therapiekonzept eingebunden fühlen. Psychologische Betreuung hilft zudem dabei, auch negative Gefühle zuzulassen.
Gibt es eine Heilung für die Krankheit?
Eine Heilung im eigentlichen Sinn gibt es nicht. Das Ziel muss es sein, dass eine Patientin möglichst ihren Alltag leben kann und Lebensqualität zurückgewinnt. Das ist durchaus möglich.
Laut der neuen ICD-11-Klassifikation [2] gilt Fibromyalgie nicht mehr als rheumatische Erkrankung, sondern als chronisches, primäres Schmerzsyndrom. Welche Auswirkungen hat das auf die Behandlung?
In der Schweiz keine grossen. Bei uns sind Fachpersonen für Rheumatologie meist auch schmerzmedizinisch tätig. Wir sind aber nicht glücklich mit der neuen Einteilung. Sie könnte Konsequenzen haben bezüglich Sozialversicherungen. Chronische Schmerzpatientinnen und -patienten haben es schwer, Leistungen zu bekommen.
Gibt es Hoffnung auf bessere Therapien?
Es gibt tatsächlich Hinweise darauf, dass sich die Erkrankung vielleicht doch anhand objektiver Kriterien nachweisen und entsprechend behandeln lässt. Studien fanden beispielsweise signifikant erhöhte Werte von Zytokinen, die mit dem Schweregrad der Erkrankung korrelierten. Und Metaanalysen zeigen, dass in der Hälfte der Fibromyalgiebetroffenen sogenannte Small Fiber Neuropathien vorhanden sind: Bisher musste man Biopsien durchführen, um Schädigungen dieser ganz kleinen Nervenenden nachzuweisen. In Zukunft wird eine Mikroskopie der Hornhaut des Auges dies grösstenteils ersetzen können.
Dr. med. Barbara Ankli
ist Rheumatologin und Fachärztin Allgemeine Innere Medizin mit eigener Praxis in Basel.


Literatur
2 https://www.rheumaliga-shop.ch/de/Shop/cont-shop/scat-0000003/sart-D371-K/ArtIDCurr-D371
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