Wild West bei Wirtschaftlichkeitsverfahren?

Tribüne
Ausgabe
2017/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05235
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(12):382–384

Affiliations
a Rechtsanwalt, MLaw, Zürich; b Dr. iur., Rechtsanwalt, Zürich; c MLaw, Zürich

Publiziert am 22.03.2017

In Wirtschaftlichkeitsverfahren weht Ärztinnen und Ärzten in jüngster Zeit ein rauer Wind entgegen. Der vorliegende Beitrag zeigt die angewandte Methodik 
des Durchschnittskostenvergleichs auf und beleuchtet die verschärfte Praxis der Krankenversicherer. Inwiefern die härtere Gangart die vom Gesetz geforderte Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit von ärztlichen Leistungen verbessert, ist für die Autoren fraglich.
Spätestens mit dem TV-Beitrag «Abzocker in Weiss» der SRF-Rundschau vom 2. November 2016, in welchem angebliche «Abzocker-Ärzte» dargestellt wurden, dürfte das Thema der Polypragmasie bzw. die daran anknüpfende Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von ambulant tätigen Leistungserbringern auch im Bewusstsein der breiten Bevölkerung angekommen sein. Der Rundschau-Beitrag bestätigt, was einzelne Ärztinnen und Ärzte in den letzten Monaten vermehrt gespürt haben dürften: Bei Wirtschaftlichkeitsverfahren weht ein schärferer Wind vonseiten der Krankenversicherer.

Procédure d’économicité: 
des méthodes dignes du Far West?

Les médecins subissent depuis peu de forts vents contraires dans la procédure d’économicité. Cet article présente la méthodologie de comparaison des coûts moyens et met en évidence le durcissement des pratiques des assurances-maladie. Ce qui frappe plus particulièrement, c’est qu’au lieu d’un débat destiné à identifier d’éventuelles particularités des cabinets, mais aussi des erreurs de la part des assureurs, les prestataires sont poussés à des aveux de culpabilité hâtifs par des attitudes agressives et des offres de comparaison apparemment séduisantes. Quant à savoir si cela améliore effectivement l’efficacité, l’adéquation et l’économicité des prestations des médecins, comme exigé par la loi, la question laisse les auteurs dubitatifs.
Gemäss Art. 56 Abs. 1 KVG haben Leistungserbringer ihre Leistungen auf das Mass zu beschränken, das im Interesse der Versicherten liegt und für den Behandlungszweck erforderlich ist. Die Norm richtet sich auch an die Krankenversicherer. Ihnen obliegt die Kontrolle der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise [1]. Ist 
die unwirtschaftliche Leistungserbringung erwiesen, wird der Leistungserbringer zur Rückzahlung desjenigen Betrags verpflichtet, der die Grenze der wirtschaftlichen Behandlungsweise überschreitet [2]. Ein Blick in die Rechtsprechung zeigt, dass es oftmals um hohe, sechsstellige Beträge geht.

Grundlagen der Wirtschaftlichkeits­überprüfung

Die Einhaltung der Wirtschaftlichkeit durch die einzelnen Leistungserbringer überprüfen die Krankenver­sicherer mit dem sogenannten Durchschnittskostenvergleich (DKV). Diese statistische Methode, die letzten Endes mittels eines Gruppenvergleichs die Unwirtschaftlichkeit einzelner Behandlungen nachweisen soll, wird deshalb als zulässig erachtet, weil der Nachweis der unwirtschaftlichen Behandlungsweise für ­jeden Einzelfall derart aufwendig wäre, dass er kaum je erbracht werden könnte, oder sich nicht lohnen würde.
Der zentrale Mechanismus beim DKV ist ein Vergleich der durchschnittlichen Kosten einer Arztpraxis pro Behandlungsfall mit den durchschnittlichen Kosten pro Behandlungsfall einer Gruppe von vergleichbaren Praxen (sog. Gruppenfallwert). Unwirtschaftlichkeit wird nicht schon bei einer Überschreitung des statistischen Mittelwerts angenommen (100 Indexpunkte), sondern erst bei 120–130 Indexpunkten.
Sind die Durchschnittskosten pro Fall höher als bei der Vergleichsgruppe (zuzüglich Toleranzzuschlag), so begründet dies die Tatsachenvermutung unwirtschaft­licher Behandlung [3]. Dem Arzt steht indessen ein ­Entlastungsbeweis zu: Er kann entlastende Besonderheiten seiner Praxis aufzeigen (z.B. besonders hohe Morbidität, viele chronisch kranke Langzeitpatienten, höheres Durchschnittsalter der Patienten als in der Vergleichsgruppe) und so die Vermutung der Unwirtschaftlichkeit umstossen.
Leistungserbringer sollen geltend gemachten Rückforderungen vorsichtig begegnen und Vergleichsvorschläge der Krankenversicherer sorgfältig prüfen.
Nebst den Praxisbesonderheiten ist die Vergleichsgruppenbildung der entscheidende Baustein dieser Methode. Die Krankenversicherer gehen grundsätzlich davon aus, dass Ärztinnen und Ärzte mit demselben Facharzttitel eine Vergleichsgruppe bilden.
Die Differenz zwischen den gesamten direkten Kosten des Leistungserbringers und dem mit Toleranzmarge korrigierten Gruppenfallwert entspricht schliesslich der Summe, welche die Krankenversicherer von den Leistungserbringern zurückfordern können. So lassen sich schnell beträchtliche Summen hochrechnen. Die Daten bzw. die sog. Rechnungsstellerstatistiken beziehen die Krankenversicherer regelmässig aus einem ­Datenpool der SASIS AG, einem Unternehmen der ­Santésuisse [4].
Soweit, zusammengefasst, die theoretischen Grund­lagen der Methode des Durchschnittskostenvergleichs. Nur am Rande sei bemerkt, dass dessen axiomatische Grundlagen durchaus nicht unumstritten sind [5]. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat diese Methode aber bislang stets geschützt.

Verschärfte Gangart in der Praxis

Wie läuft ein solches Verfahren aber nun in der Praxis? Stellen die Krankenversicherer aufgrund der Rechnungsstellerstatistiken fest, dass die durch­schnitt­lichen Fallkosten über dem Durchschnitt vergleich­barer Praxen (zzgl. Toleranzmarge) liegen, wird in aller Regel zur Klärung des Kostenbildes des betroffenen Leistungserbringers eine persönliche Besprechung vorgeschlagen. Mit der zu diesem Zeitpunkt signa­lisierten Gesprächsbereitschaft erfolgt auch eine ­Konfrontation des Leistungserbringers mit Sta­tis­tik­aus­zügen. Dabei werden die Kosten einer Praxis sehr pauschal bewertet. Es liegt dann am Praxisinhaber, möglicherweise bestehende Praxisbesonderheiten geltend zu machen und entsprechende Anpassungen der Werte zu ver­langen. Die Krankenversicherer akzeptieren solche Praxisbesonderheiten indessen nur widerwillig. Des Öfteren werden detaillierte Nachweise des Zusammenhangs zwischen den höheren Kosten und der geltend gemachten Praxisbesonderheit verlangt, die nur schwierig und wenn überhaupt nur unter grossem Aufwand zu erbringen sind.
In den vergangenen Jahren konnten die Kostenstrukturen der von Wirtschaftlichkeitsverfahren betroffenen Praxen oft in einem Diskurs geklärt werden (zumindest wenn sich beide Seiten diskursfähig erwiesen), und man kam so mittels Vergleich zumeist zu einer ­guten Lösung. Dagegen ist heute eine in doppelter ­Hinsicht verschärfte Gangart festzustellen: Nicht nur werden die geforderten Summen immer höher, auch schlagen die Krankenversicherer schneller und konsequenter den Rechtsweg ein. Wer auf dem Radar eines Wirtschaftlichkeitsverfahrens auftaucht, ist demzufolge schnell einmal mit einem Vergleichsvorschlag oder einer schiedsgerichtlichen Klage konfrontiert, bei denen es jeweils um relativ hohe Summen geht.1 Dieses konsequente und schnelle Vorgehen ist nicht nur der gesetzlich vorgesehenen einjährigen Verwirkungsfrist für Rückforderungen geschuldet [6], sondern wohl ebenfalls der erwähnten härteren Gangart. Davon sind sowohl ambulant tätige Leistungserbringer, die seit Jahren in etwa gleich praktizieren, als auch teilweise neueröffnete Praxen betroffen. Besonders Letzteres erstaunt. Im Übrigen ist auch auf die Methoden der Berechnung und die tatsächliche Durchsetzbarkeit der geltend gemachten Rückforderungen Acht zu geben, weil z.B. teilweise falsche Verjährungsfristen behauptet werden (z.B. 5-Jahres-Frist gemäss Art. 128 Abs. 3 OR).
Die gegebenenfalls gerechtfertigte Zurückhaltung oder das notwendige Fingerspitzengefühl bei Wirtschaftlichkeitsverfahren scheinen heute oftmals auf der Strecke zu bleiben und einen Diskurs zu verunmöglichen oder zumindest zu erschweren. Dies gilt etwa auch dann, wenn Rückforderungen, die in ein Wirtschaftlichkeitsverfahren gehören, – quasi en passant – erhoben werden, etwa bei einer Überprüfung der Abrechnung von einzelnen Positionen des TARMED eines Leistungserbringers. Bei einer entsprechenden Vermengung der Überprüfung der Wirtschaftlichkeit mit der Kontrolle der eigentlichen Abrechnungstätigkeit des Leistungserbringers (in der Praxis als «Tarifcontrolling» bezeichnet) wird von den Krankenversicherern gerne ausgeblendet, dass beides nach ­anderem Mass zu bemessen ist. Hinsichtlich der Kontrolle der Abrechnungstätigkeit des Leistungserbringers sind die Hürden für den Nachweis der Unwirtschaftlichkeit weitaus höher bzw. der Nachweis seitens der Krankenversicherer schwieriger zu erbringen. Aufgrund dessen erstaunt es nicht, dass oftmals in solchen Fällen die Offerte vonseiten Krankenversicherer, einen Vergleich über die pauschal behaupteten Rückforderungsansprüche abzuschliessen, relativ schnell und auf informellen Wegen (etwa per E-Mail) den überraschten Leistungserbringern unterbreitet wird.

Vorsicht ist geboten

Alles in allem ist festzustellen, dass sich an den recht­lichen Grundlagen der Wirtschaftlichkeitsverfahren (noch [7]) nichts geändert hat, hingegen sich die Methoden des Sheriffs zu ändern begonnen haben. Inwiefern dies zu einer besseren oder gerechteren Kontrolltätigkeit der Krankenversicherer hinsichtlich der vom Gesetz geforderten Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistungen im Gesundheits­wesen führen kann, ist offen. Die Methodik der Krankenversicherer lässt im Einzelfall zwar oftmals durchaus Angriffsflächen zu (sowohl rechtlicher als auch tatsächlicher Art). Für Laien sind diese aber sehr anspruchsvoll und die Schwachpunkte der Argumentation oftmals nicht einfach erkennbar.
Seitens der Leistungserbringer ist zu fordern, dass sie die Vergleichsgrundlagen von sich aus – idealerweise zeitgleich mit der ersten Kontaktaufnahme – transparent machen und uneingeschränkten Einblick in das verwendete Datenmaterial in dem Sinne gewähren [8]; dies unabhängig davon, ob das von der SASIS AG zur Verfügung gestellte Formular verwendet wird.2 Dieser Blick kann dann etwa offenbaren, dass es sich bei den Vergleichspraxen zuweilen um praktisch stillgelegte Einrichtungen handelt oder es solche sind, die Ärztinnen und Ärzte vorwiegend teilzeitlich oder in anderen Beschäftigungsmodellen beschäftigen, und die Vergleichsbasis weniger taugt, als es der erste Anschein ­erwecken will. Es ist den betroffenen Leistungserbringern aber auf jeden Fall zu raten, den geltend gemachten Rückforderungen von Beginn weg mit der gebo­tenen Vorsicht zu begegnen und die Berechnungen sowie die daraus resultierenden Vergleichsvorschläge der Krankenversicherer im Detail zu überprüfen.
Dr. Ralph Trümpler
Poledna RC
Limmatquai 58
CH-8001 Zürich
1 Vgl. Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in: Ulrich Meyer (Hrsg.), SBVR Soziale Sicherheit, 3. Aufl., Basel 2016, Rz. 869 (auch zum Folgenden).
2 Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG.
3 Eugster, a.a.O., Rz. 904.
4 Zum Ganzen: Gebhard Eugster, KVG: Statistische Wirtschaftlichkeitsprüfung im Wandel, in: Jusletter 25. Juni 2012.
5 Prof. Dr. iur. Ueli Kieser vertritt gar die Meinung, dass die Unwirtschaftlichkeit mittels der zur Zeit vorgenommenen Kontrolle überhaupt nicht erwiesen werden könne (Kieser U., Wirtschaftlichkeitskontrolle in der Krankenversicherung, Schweiz. Ärztezeitung 2014, 95(51/52):1985).
6 Vgl. Art. 25 Abs. 2 ATSG.
7 Gestützt auf Art. 56 Abs. 6 KVG haben sich die Leistungserbringer und Versicherer zwar auf die sog. ANOVA-Methode, eine Varianzanalyse, geeinigt. Diese wird aktuell extern validiert und könnte den problematischen DKV mittelfristig ablösen (vgl. Kessler T./D’Angelo M./Trittin A., Neue Wege bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung 2017, Schweiz. Ärztezeitung 2017, 98(7):208–9).
8 Siehe auch und vertiefend Prof. Dr. iur. Valérie Junod in der Schweiz. Ärztezeitung 2011, 92(9):336.