Seminar der Schweizerischen Gesellschaft für Biomedizinische Ethik im Tessin

Seminar der Schweizerischen Gesellschaft für Biomedizinische Ethik im Tessin: Anregend und bereichernd

Zu guter Letzt
Ausgabe
2017/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05240
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(03):92

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 17.01.2017

Im November 2016 habe ich am jährlichen Herbstseminar der Schweizerischen Gesellschaft für Biomedizinische Ethik* teilgenommen, das traditionell im historischen Convento Santa Maria in Bigorio stattfand. Es liegt oberhalb von Lugano, inmitten eines wunderbaren Kastanienwaldes (jene lichten, selva genannten Wälder, in denen die Kastanienbäume besonders schön sind).
Unter der Ägide der beiden Organisatoren – einem ehemaligen SGBE-Präsidenten und Chefarzt der Pädiatrie in Lugano und einem Bioethik-Philosophen – nahmen 25 Personen an der dreitägigen Veranstaltung teil. Die Teilnehmenden stellten ihre Forschungsarbeiten vor und ein halber Tag war der immer aktuellen Thematik der künstlichen Befruchtung gewidmet, u.a. mit einem Referat über den Begriff «Natur» in der Botschaft des Bundesrats zum Gesetzesentwurf über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung aus dem Jahr 1996 (1998 in der Volksabstimmung angenommen und 2001 in Kraft getreten). Es kam zu sehr interessanten Gedankenaustauschen in Bezug auf die Tatsache, dass wir, wenn wir über die Natur des Menschen sprechen, in der Tat nicht allein die Biologie einschliessen und es eigentlich nahezu unmöglich ist, sie von der Vielfalt der kulturellen Einflüsse abzugrenzen. Das veranlasste mich zu einigen Überlegungen: Seit Beginn meines Engagements in Public Health lebe ich mit den speziellen Zuordnungen, mit denen wir die Begriffe Natur und Kultur (nurture im Englischen) belegen, mit ihren Beziehungen und Spannungsverhältnissen. So kam mir der Gedanke, dass letztlich (fast) die ganze Natur Kultur sein könnte, da sie doch immer von ihr beeinflusst wird … vor allem vor dem Hintergrund wachsender Kenntnisse in der Epigenetik (nachhaltiger, umweltbedingter Veränderungen in der Genetik [physisch, sozial und psychosozial]). Bislang als klar und deutlich eingeschätzte 
Konzepte werden unbestimmt, ihre Grenzen verschwimmen. Brave new world of science – and of life
Gedanken, die zum Nachdenken anregen: Die Konformität der Natur hat nichts mit Gut oder Böse zu tun. Der Begriff von der «natürlichen Ordnung der Dinge» kann ganz offenkundig nicht dazu herangezogen werden, beispielsweise die Homosexualität zu disqualifizieren, da sie bei zahlreichen Arten – darunter auch beim Menschen – von Natur aus vorkommt.
Ein hoch philosophischer Vortrag (bei dem ich – mit meinen beschränkten Mitteln etwas Mühe hatte, konzentriert zu folgen) über die Schwierigkeiten in der Definition von Invalidität. Ich lerne, dass es sich dabei um eine «im Grundsatz kontroverse Vorstellung» han-
delt – wie dies auch bei Begriffen wie Justiz, Kunst, Macht oder Krieg der Fall ist. Das Seminar umfasste auch Beiträge und Diskussionen in Bereichen, die mir vertrauter sind, beispielsweise mit Blick auf die prak­tischen Modalitäten einer ethischen Beratung in ­Institutionen oder auf Untersuchungen im Bereich ­Behandlungen (z.B. Überdiagnostik – overdiagnosis) oder im medizinisch-rechtlichen Bereich. Eine Kinderärztin aus Winthertur erörterte die Frage, wie mit ­Eltern umzugehen ist, die Früherkennung (eigentlich Routinetests) bei ihren Kindern ablehnen und führte als Beispiel die Entnahme von Blut an der Ferse des Neugeborenen an, um damit neun Früherkennungstests durchzuführen. Die Eltern haben das Recht, diese Tests zu verweigern, aber sie laufen so Gefahr, Ihrem Kind einen schlechten Dienst zu erweisen. Autoritäre Massnahmen sind in solchen Fällen unangebracht. Stattdessen sollten wir zuhören und miteinander reden.
Aktuell ist auch das Thema der «Besserung» des Menschen: Wir sahen den Film In time von Andrew Niccol (2011). Darin lebt der Mensch in der Zukunft dank einer Zeitreserve, über die er verfügt (die auch an Dritte weitergereicht werden kann). Weniger betuchte Menschen haben wenig davon, betuchte haben viel (hunderte von Jahren). In einer solchen Gesellschaft haben jene, die sehr lange leben, grosse Angst vor Unfällen, bösartigen Erkrankungen oder anderen, im Verbund mit der Langlebigkeit auftretenden Bedrohungen. Ausserdem werden sie von der Langeweile geplagt. Dazu der Spruch: «Die Armen sterben, aber die Reichen leben nicht». Am Ende stellt sich die Frage, ob die Sterblichkeit unserem Leben Sinn verleiht (ich bin davon überzeugt). Fazit des Films: «Wir wollen sterben, wir müssen sterben» …
Eine Vielzahl schwieriger Herausforderungen, bei denen man sich fragt, welches Gesicht sie morgen zeigen werden. Einer unserer Lehrer in den USA meinte bereits vor knapp fünfzig Jahren: «Komplexität hat eine grosse Zukunft». Zumindest das ist sicher!
jean.martin[at]saez.ch