Adipositas und Übergewicht

Adipositas und Übergewicht: Bariatrische Chirurgie vs. konservative Therapie

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Ausgabe
2017/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05283
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(03):57–58

Publiziert am 17.01.2017

Bei schwerer Adipositas ist ein chirurgischer Eingriff nach erfolgloser kon­servativer Behandlung, individueller Abklärung durch ein interdisziplinäres Team und seriöser Aufklärung des Patienten sinnvoll. Es wird empfohlen, die heute ­geltenden Kriterien für eine Vergütung durch die obligatorische Krankenversicherung neu zu beurteilen.
Der Appraisal-Bericht «Bariatrische Chirurgie vs. kon­servative Therapie bei Adipositas und Übergewicht» kurz zusammengefasst:
2012 galten in der Schweiz 10,3% der Einwohner als adipös und 30,8% als übergewichtig. Die Gesundheitskosten aufgrund von Adipositas beliefen sich im Jahr 2011 auf schätzungsweise 7990 Mio. CHF. Adipöse Personen haben eine hohe Prävalenz von Begleiterkrankungen wie beispielsweise Typ-2-Diabetes, die zu erhöhter Morbidität und Mortalität führen können. Mit Änderungen des Lebensstils und medikamentösen Therapien konnten keine langfristigen Wirkungen auf die Lebensqualität (QoL) und die gesundheitlichen Er­gebnisse bei Personen mit schwerer Adipositas (BMI ≥35 kg/m2) erzielt werden. Die bariatrische Chirurgie wurde als alternative Behandlungsmöglichkeit zur Verbesserung der langfristigen gesundheitlichen Ergebnisse und der Lebensqualität diskutiert und von HTA-Agenturen in den USA und Europa empfohlen. 
Im Jahr 2014 wurden in der Schweiz 4167 bariatrische Operationen durchgeführt. Die schweizerische Obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt derzeit die Kosten bei bestimmten Arten von bariatrischen Eingriffen bei Personen mit schwerer Adiposi-
tas.
Der Appraisal-Bericht untersucht die Evidenz zu Wirksamkeit, Sicherheit und Kosten-Nutzen-Verhältnis der bariatrischen Chirurgie im Vergleich zur konserva­tiven Therapie bei Erwachsenen unter Berücksichtigung von rechtlichen und ethischen Implikationen. Es wurden randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) ­berücksichtigt, ergänzt um Langzeit- und Sicherheits­daten aus gut durchgeführten Beobachtungsstudien. Für die Zusammenfassung und Bewertung der Evidenz wurde der GRADE-Ansatz verwendet. Es wurden Subgruppenanalysen nach BMI (< versus ≥ 35 kg/m2) sowie nach verschiedenen Arten von bariatrischen Eingriffen durchgeführt. Im Rahmen des Appraisals wurden auch relevante HTA-Berichte gesichtet.
Sechzehn RCTs wurden in die Beurteilung einbezogen. Die meisten Studien nahmen Personen mit spezifischen Begleiterkrankungen auf und die Studienendpunkte umfassten einen Zeitraum von bis zu 2–3 Jahren. Die in diesen Studien gewonnene Evidenz legt nahe, dass adipöse Personen (insbesondere solche mit einem BMI ≥35 kg/m2), die eine bariatrische Operation erhalten, in den ersten 2–3 Jahren häufiger eine Reduktion des Körpergewichts erreichen als diejenigen, die nach einem konservativen Ansatz behandelt werden. Mit Operation lag die mittlere Reduktion bei 18% (95% KI 15%–21%) und reichte von 1% bis 7% bei konserva­tiver Therapie (moderate Qualität der Evidenz). Dar­über hinaus war die bariatrische Chirurgie auch mit ­einer signifikanten Verbesserung der körperlichen Funktionsfähigkeit als Komponente von QoL-Skalen, einer Abnahme der mittleren HbA1c-Konzentration im Blut und höheren Diabetes-Remissionsraten verbunden, wie aus einigen Studien mit geringer Evidenz­qualität hervorging. Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse treten nach Operationen möglicherweise häufiger auf, aber die Daten lassen sich nicht abschlies­send beurteilen, da sie von sehr geringer Qualität sind. Die Subgruppenanalysen zeigten keine Unterschiede in der Wirksamkeit zwischen den BMI-Gruppen. Die Evidenz war jedoch nicht ausreichend, um eine eindeutige Antwort darauf zu geben, welche Art von Operation effektiver ist. Daten aus Beobachtungsstudien deuteten auf einen erheblichen langfristigen Nutzen der bariatrischen Chirurgie im Hinblick auf die Gesamtmortalität und eine Verringerung der kardio­vaskulären Ereignisse hin, trotz einer Zunahme der ­perioperativen Mortalität sowie der Todesfälle, die nicht direkt mit der Operation in Zusammenhang ­stehen, wie beispielweise Suizide.
Die Auswertung von gesundheitsökonomischen Studien und die Übertragung der Ergebnisse auf die Verhältnisse in der Schweiz zeigte, dass bei einem BMI ≥35 kg/m2 mit oder ohne Begleiterkrankungen die ­bariatrische Chirurgie eine entweder kostenwirksame oder kostensenkende Lösung ist, wenn man allgemein anerkannte Kosten-Nutzen-Schwellen berücksichtigt. Die Anpassung an die Verhältnisse in der Schweiz führte zu einem inkrementellen Kosten-Nutzen-Verhältnis (ICUR) von weniger als CHF 50 000 je qualitätsberichtigtem Lebensjahr (QALY). Die Kosten-Nutzen-Daten aus Beobachtungsstudien deuten darauf hin, dass die Gesamtkosten bei einem bariatrischen Eingriff höher sind als bei einer konservativen Behandlung, weil die Kosteneinsparungen aufgrund der gesenkten Prävalenz von Typ-2-Diabetes nach der Operation die hohen anfänglichen Kosten der Operation nicht vollständig kompensieren können.
Es bleiben jedoch beträchtliche Unsicherheiten im Zusammenhang mit der bariatrischen Chirurgie bestehen. Es besteht ein klarer Bedarf für eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Patienten, die Kandidaten für diesen Eingriff sind, und ihren Gesundheitsdienstleistern. Einige Behandlungszentren versorgen Patienten mit Informationsmaterial zur Entscheidungshilfe. Dies ist jedoch keine einheitliche Anforderung und Unterschiede zwischen den Behandlungszentren sind wahrscheinlich.
Das Appraisal-Komitee spricht folgende Empfehlungen aus:
1. Personen mit einem BMI >35 kg/m2 (Adipositas der Klasse II oder höher) sollte nach sorgfältiger Beurteilung ihrer Eignung für einen chirurgischen Eingriff und ihres individuellen Risikos und Nutzens durch ein interdisziplinäres Team die Möglichkeit eines bariatrischen Eingriffs angeboten werden.
2. Bei Personen mit einem BMI von ≥30 bis <35 kg/m2 (Adipositas der Klasse I) und damit einhergehenden Begleiterkrankungen wie Typ-2-Diabetes kann ein bariatrischer Eingriff nach sorgfältiger Bewertung der Schwere und Dauer der Begleiterkrankungen sowie der Risiken und des Nutzens des chirurgischen Eingriffs in Erwägung gezogen werden.
3. Es ist sinnvoll, den bariatrischen Eingriff für einen bestimmten Zeitraum zugunsten einer konserva­tiven Behandlung hinauszuschieben.
4. Der bariatrische Eingriff sollte in einem anerkannten Behandlungszentrum durchgeführt werden.
5. Alle Personen, die für eine Operation in Frage kommen, sollten ausgewogene und unvoreingenommene Informationen über die kurz- und langfristigen Risiken und den Nutzen eines bariatrischen Eingriffs erhalten, einschliesslich einer Erläuterung der Unsicherheiten in Zusammenhang mit den langfristigen Ergebnissen.
6. Alle Patienten, die sich einem bariatrischen Eingriff unterziehen, sollten in ein Register aufgenommen werden, wie z.B. das derzeitige SMOB-Register, um eine langfristige Verlaufsbeobachtung im Hinblick auf somatische und psychische Gesundheitsfolgen zu gewährleisten.
7. Die Kriterien für die Rückerstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung (d.h. mindestens 2 Jahre konservative Behandlung vor dem bariatrischen Eingriff bei Personen mit einem BMI >35 kg/m2) sollten unter Berücksichtigung des aktuellen Kenntnisstands neu bewertet werden.
8. Angesichts der begrenzten Evidenz aus RCTs und Beobachtungsstudien besteht ein grosser Bedarf an weiterer Forschung. Patienten und Gesundheitsfachleute brauchen bessere Evidenz, um fundierte Entscheidungen bezüglich bariatrischer Eingriffe treffen zu können.
– Die Forschung sollte Daten über den Lebensverlauf von adipösen Personen mit oder ohne Operation liefern.
– Besonderes Augenmerk sollte auf stoffwechselbedingte Begleiterkrankungen als zusätzliche pro­gnostische Faktoren und Kriterien für eine bariatrische Operation gelegt werden.
– Es sollten Instrumente zur Risikovorhersage entwickelt werden, um diejenigen Betroffenen, die am ehesten von einem bariatrischen Eingriff oder einer konservativen Therapie profitieren, besser ermitteln zu können.

Abkürzungen

BMI: Body Mass Index
GRADE: Grading of Recommendations Assessment, 
 Development and Evaluation
HbA1c: Hämoglobin A1c
HTA: Health Technology Assessment
ICUR: Incremental Cost-Utility Ratio
KI: Konfidenzintervall
QALY: Quality-Adjusted Life Year
QoL: Quality of Life
RCT: Randomized Controlled Trial
SMOB: Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and 
 Metabolic Disorders

Hinweis

Der Assessment- und der Appraisal-Bericht können auf der Webseite des Swiss Medical Board unter http://www.medical-board.ch/
index.php?id=809 eingesehen werden.
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