Aussergewöhnliche Berufsperspektiven für Mediziner

Expeditionsarzt

Horizonte
Ausgabe
2017/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05317
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(13):416–418

Publiziert am 29.03.2017

Die letzte Prüfung ist geschafft, das Medizinstudium beendet. Und wie geht es jetzt weiter? In unserer Serie «Du findest Deinen Weg!» stellen wir ­Ihnen in unregelmäs­sigen Abständen aussergewöhnliche Berufsperspektiven für Mediziner vor. In dieser Ausgabe berichtet Professor Dr. med. Patrick Schoettker von seiner nebenberuflichen Tätigkeit als Expeditionsarzt.
Herr Schoettker, Sie sind Chefarzt für Anästhesie am CHUV. In Ihrer Freizeit sind Sie zudem als Expeditionsarzt tätig. Sind Sie selbst ein Abenteurer?
Name: Professor Dr. med. 
Patrick Schoettker
Alter: 49
Zivilstand: verheiratet, 
zwei Kinder
Funktion: Chefarzt für Anästhesie am CHUV und nebenberuflich Expeditionsarzt
Als Expeditionsarzt tätig seit: 1994
Ausbildung: Facharzt für­ ­Anästhesiologie, Notfallarzt
Nie so viel wie meine Abenteurkollegen. Ich segle zwar gern und war öfters auf hoher See unterwegs, sei es für transatlantische Segelregatten oder für ein paar Tage mit dem Solarboot. Aber eine Expedition «alone around the world» braucht schon viel Mut, Zeit und Talent.
«Als Segler weiss ich, dass es in der Aussenwelt auch mal hart werden kann», sagt Patrick Schoettker (links), hier auf einem Foto vom «5-Tage-5-Nächte-Nonstop-Segelrennen».
Das Solarboot, das Sie eben erwähnten, war 2010 in Monaco zu einer zweijährigen Weltumseglung gestartet. Sie hatten die Expeditionsteilnehmer damals medizinisch betreut. Wie kam es dazu?
Ich war damals verantwortlicher Arzt bei der Rega in Lausanne und mit einem der Ambulanzfahrer, Raphael Domjan, befreundet. Er hatte die Idee dazu. Am Anfang war es nur ein kleines Projekt: Zwei Personen sollten auf einem sieben Meter langen Solarboot um die Welt segeln. Schlussendlich kamen bis zu sieben Menschen an Bord. Und mit 35 Metern Länge war das Boot dann doch nicht so klein.
Wie genau sah die medizinische Betreuung aus?
Vor Reiseantritt mussten alle Teilnehmer einen medizinischen Check-up machen, damit ich über ihren Gesundheitszustand informiert war. Auf der Reise sollten sich die Teilnehmer dann selbst medizinisch versorgen können, nachdem wir zusammen per Telefon die Strategie besprochen hatten. Zwar war Raphael Domjan die ganze Zeit mit an Bord, aber für den Fall, dass er erkranken sollte, mussten die anderen ja auch helfen können. Deshalb haben wir ein medizinisches Konzept entwickelt.
Können Sie das Konzept beschreiben?
Das Konzept basierte auf einem Code von «1» bis «14». «1» war ein Bagatellfall, «14» eine Notsituation wie z.B. eine Reanimation. Den Nummern entsprechend hatten wir für das Team Notfalltaschen in einen Doktorkoffer gepackt. Wenn dann auf der Reise etwas passiert war, hat mich das Team über Satellitentelefon an­ge­rufen und geschildert, was los ist. Ich musste dann entscheiden, welche Massnahme die richtige ist und welchen Tasche sie verwenden sollten.
Warum waren Sie selbst nicht mit an Bord?
Es war nicht die Lust, die mir fehlte! Aber als Chefarzt für Anästhesie in einem Unispital ist es schon schwierig, mehrere Wochen von der Abteilung weg zu sein. Deshalb habe ich ab und zu ein paar Tage Ferien genommen, um die Crew zu treffen und für kurze oder bestimmte Strecken zu begleiten.
Hätten sich die Teilnehmer auch bei einem Herz­infarkt selbst helfen können?
Ja, es war Sauerstoff an Bord und die nötigen Medikamente. Und ich hatte mit der Crew die schlimmsten Notfällen in Theorie besprochen, so dass sie schon ein wenig vorbereitet waren.
Lief die Kommunikation ausschliesslich
über das Satellitentelefon?
Ja, aber wir konnten so nicht nur miteinander sprechen. Manchmal hat mir das Team auch Bilder zugeschickt, zum Beispiel von Schürfwunden oder Schwellungen. So war es leichter für mich, einzuschätzen, was im konkreten Fall zu tun war und wie sich die Situation entwickelte.
Was für Erkrankungen kamen am meisten vor?
Eher Kleinigkeiten, eine Grippe, kleine Pneumonie oder Seekrankheit.
Und was war die schlimmste Notsituation?
Das Schlimmste war, dass jemand acht Meter tief vom Solarboot ins Meer gestürzt ist, sich dabei das Bein an der Schiffswand aufgerissen hat und in einem Quallennest gelandet ist. Er konnte nur noch schlecht atmen. Als das Team mich angerufen hat, musste ich also schnell entscheiden, was zu tun ist. Ich habe das Team dann erst einmal beruhigt und allen klar gemacht, dass sie die einzigen sind, die jetzt helfen können. Und dass sie das auch wirklich können! Wir haben dann per Telefon die verschiedenen Massnahmen besprochen. Dann haben alle ganz professionell gehandelt und die Situation gemeistert, ohne einen Hafen anlaufen zu müssen. Wir waren dann regelmässig per Telefon in Kontakt, bis alles wieder zur Routine geworden war.
Bei einer Weltumseglung kann das Boot ja nicht immer in Küstennähe fahren. Wie hätte man dem Team auf hoher See im Notfall helfen können?
Entweder wäre ein Hubschrauber eine Möglichkeit gewesen, oder man hätte andere Schiffe in der Nähe angerufen, ob sie helfen können. Wir hatten unser medizinisches Konzept auf vier Tage Autonomie ausgelegt, denn fast überall auf der Welt, wo dieses Boot hinsegelte, hätte man es innerhalb von vier Tagen anfliegen oder anfahren können.
Gab es denn eine Situation, in der sich das Team nicht selbst helfen konnte?
Ja, ganz am Anfang hatte jemand eine akute Zahnwurzelentzündung. Wir haben die Person dann in die Schweiz ausgeflogen, weil so eine Entzündung professionell behandelt werden muss, damit das Teammitglied die weitere Reise auch ohne Probleme miterleben konnte.
Ein weiteres Projekt, das Sie betreut haben, war der Selbstversuch eines Geschäftsmannes aus Paris, der 40 Tage allein auf einer einsamen Insel in Indonesien verbringen wollte. Worum ging es bei diesem Projekt?
Der Mann wollte beweisen, dass er sein Business von der Insel aus leiten kann – nur mit einem sonnenbetriebenen Computer ausgestattet. Als Geschäftsmann hatte er schon viel von der Welt gesehen, war aber eigentlich kein Abenteurer. Ich habe für ihn ebenfalls ein medizinisches Konzept erarbeitet. Allerdings ging der Code hier nur von «1» bis «9». Und anders als bei dem Solarboot musste ich einige Besonderheiten mit einbeziehen: Der Mann hatte keinerlei medizinische Kenntnisse, auf der Insel gab es wilde Tiere wie zum Beispiel Schlangen oder Warane und am Ufer viele scharfkantige Korallen.
Und hat der Geschäftsmann Ihre Hilfe benötigt?
Ja, aber anders, als gedacht. Er wollte sich eigentlich von Fisch ernähren. Nur leider hatte er keine Ahnung vom Fischen. Zudem gab es rund um die Insel starke Strömungen und Korallen, so dass er nicht rausgehen und fischen konnte. Damit wurde die Ernährung sein grösstes Problem.
Wie hat er sich dann ernährt?
Ich hatte ihm eine Alimentation mit Reis und anderen haltbaren Nahrungsmitteln eingepackt sowie verschiedene Flüssigkeiten für den Notfall. Gegen Ende war er so ausgehungert, dass er sogar die Rehydrata­tionslösung getrunken hat. Danach war er so euphorisch, dass er schwimmen gegangen ist und in der Strömung fast ertrunken wäre.
Hat Sie der Geschäftsmann oft um Hilfe gebeten?
Am Anfang nicht. Aber nach ungefähr zwei Wochen hat er mir ein- bis zweimal pro Tag eine E-Mail geschrieben. Und darin ging es dann fast immer ums Essen. Später hat er mir einmal gesagt, dass es wichtig für ihn war, dass er jemanden anschreiben und etwas fragen konnte. Ich war für ihn also mehr ein Psychologe als ein Arzt.
Hat er sich denn auch einmal verletzt?
Ja, er hat sich zwei- oder dreimal an Korallen verletzt. Nachdem wir telefoniert hatten, konnte er dann die Wunden ganz gut alleine mit ein bisschen Desinfek­tionsmittel und Steristrips versorgen.
Und hat er das Experiment durchgehalten?
Ja, er hat die Insel nach 40 Tagen verlassen – allerdings um etwa 14 Kilogramm leichter. Und es hat ihm ge­fallen: Am 25. Februar 2017 geht er für 40 Tage alleine in die Wüste von Oman für ein ähnliches Abenteuer. Ich freue mich schon auf seine E-Mails!
In diesem Jahr wollen Sie sich noch einem weiteren Projekt widmen: einem Solarflugzeug, das in die Stratosphäre hinauffliegt. Wie kam es dazu?
Die Idee dazu hatte Raphael Domjan, als er nachts mit dem Solarboot unterwegs war. Er möchte beweisen, dass man mit einem Flugzeug, das ausschliesslich mit Solarenergie betrieben wird, 24 000 Meter in die Höhe fliegen und von dort aus die Erde anschauen kann.
Was ist bei diesem Projekt Ihre Aufgabe?
Das Flugzeug hat, anders als zum Beispiel grosse Passagierflugzeuge, keine Druckkabine. Das bedeutet, dass Raphael die ganze Zeit einen Astronautenanzug tragen und ausschliesslich durch die Sonnenenergie mit Sauerstoff versorgt wird. Wenn er mit dem Flugzeug zu schnell hochsteigt oder sinkt, könnte sein Körper das nicht bewältigen und er in Ohnmacht fallen. Meine Aufgabe wird es sein, seine Vitalfunktionen wie Herzrhythmus, Blutdruck oder Blutsättigung zu überwachen.
Und wie ist das technisch möglich?
Wir entwickeln hier in Lausanne und zusammen mit Ingenieuren in Neuchâtel gerade einen Sensor, eine Art Pflaster, das man in der Nähe des Herzens aufklebt und mit dessen Hilfe man kabellos über das Satellitentelefon Parameter wie Blutdruck, Herzfrequenz, Sättigung, Temperatur und Atmungsfrequenz übertragen kann. Diese Technik können wir dann später auch im OP anwenden. Oder Sportler können sie nutzen. Dieser Sensor wird zurzeit in meinen Operationssälen mit einer Studie wissenschaftlich bewertet.
Werden Sie mit Raphael auch sprechen können?
Ja, die Kommunikation läuft über Funk, eventuell auch über eine Art Webcam im Cockpit, damit ich sehen kann, wie er sich bewegt.
Entwickeln Sie für den Solarflug auch
ein medizinisches Konzept?
Nein, bei diesem Flug werde ich nur sagen können: «Stopp, warte!» oder «Geh etwas weiter hoch/runter». Er selbst kann dann über seinen Astronautenanzug noch die Sauerstoffzufuhr regulieren. Etwas anderes kann ich nicht machen. Wichtig wird aber sein, dass ich auf die Messwerte schnell reagiere und ihm schnell Anweisungen gebe. Die ersten Testflüge sind für diesen Frühling geplant.
Welches war das schönste Erlebnis als Expeditionsarzt?
Das war die Ankunft des Solarboots in Monaco. Als wir alle an Bord gehen und das Team begrüssen durften. Da habe ich gemerkt, wie sehr die Menschen an Bord zusammengewachsen sind und wie sie mich ins Team eingeschlossen haben. Das war ein unglaublich schöner Moment!
An Bord des Solarboots: Patrick Schoettker (links) beim Ausfahren der Solarzellen.
Ist es als Expeditionsarzt von Vorteil, 
Anästhesist zu sein?
Ich glaube, als Anästhesist hat man eine bestimmte Art zu denken. Ich bin es gewohnt, in kritischen Situationen schnell eine Lösung zu finden. Deswegen ist es für diesen Job wahrscheinlich gut, Anästhesist oder Notfallarzt zu sein.
Wie viel Zeit nimmt Ihre Tätigkeit als Expeditionsarzt in Anspruch?
Das weiss ich nicht. Das Telefon ist sowieso immer an, und man kann mich rund um die Uhr erreichen. Ich mache das nebenher, würde ich sagen. Und es macht mir Spass.
Lassen sich Ihr Beruf und auch Ihre Nebentätigkeit als Expeditionsarzt gut mit der Familie vereinbaren?
Ja. Meine Familie weiss, dass ich immer über das Telefon erreichbar bin und dass es ab und zu mal läutet. Das gehört zum Job und zu mir. Und die ganze Familie fiebert sowieso mit diesen Projekten mit, da meine Frau auch Ärztin ist. Voilà!