Eigenverantwortung

Zu guter Letzt
Ausgabe
2017/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05360
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(05):174

Affiliations
Lic. oec. publ., MHA, Mitglied der Redaktion

Publiziert am 31.01.2017

Die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen sind wieder Thema auf allen Kanälen, und natürlich stehen die Gesundheitspolitikerinnen und Experten mit Rezepten bereit, die etwa so lauten: weniger Leistungen, weniger Spitäler, weniger freie Arztwahl, höhere Franchisen, mehr Wettbewerb und – vor allem – mehr Eigenverantwortung. Mehr Eigenverantwortung heisst, mehr selber zahlen, denn der Mensch schaut bekanntlich immer zuerst aufs Portemonnaie, bevor er sich entschliesst, krank zu werden. Als Ökonomin weiss ich zudem, dass der Mensch ein moralischer Hasardeur ist. Will heissen, wenn er Versicherungsprämien zahlt, verliert er alle Hemmungen und will alles haben. Sofort. Weil die Prämien konstant stiegen, fühlten sich die Versicherten umso mehr berechtigt, bei jeder Bagatelle zum Arzt zu rennen, liess sich zum Beispiel Daniel ­Habegger von santésuisse in der NZZ vernehmen [1]. Die Rennerei wiederum führt zu Mehrkosten und zu höheren Prämien und ergo rennen noch mehr Leute zum Arzt. Ein Teufelskreis, aus dem wir nur dank mehr Eigenverantwortung wieder herauskommen.
«Eigenverantwortung» hätte das Zeug zum Wort des Jahres, wenn nicht sogar zum Wort des Jahrzehnts! Eigen­verantwortung ist eine tolle Sache, eine Alleskönnerin. Sie macht, dass wir uns informieren, im Markt orientieren, bewusstmachen, was wir wollen, was wir wirklich brauchen und welchen Preis wir bereit sind dafür zu zahlen. Sie lässt uns denken, bevor wir los­rennen. Sie macht bessere Menschen aus uns.
Gut ist zudem, dass wir leicht unterscheiden können zwischen Menschen mit und solchen ohne Eigenverantwortung. Die Eigenverantwortungslosen sind die­jenigen, die Ende Jahr, wenn die Franchise aufgebraucht ist, extra nochmals eine Ärztin aufsuchen, weil ja die Krankenkasse zahlt. Aber damit nicht genug: Leute ohne Eigenverantwortung sind übergewichtig, ­rauchen und sitzen vor dem Bildschirm, statt sich zu bewegen. Sie essen zu viel Zucker, zu viel Fett und zu wenig Gemüse. Sie foutieren sich um die Empfehlungen der Fachleute und rennen, wenn sie sich krank fühlen, ohne nachzudenken, zum Arzt. Und wir, die schlanken, fitten, sportbewussten Nichtraucherinnen, zahlen mit. Wir, die wir unsere Eigenverantwortung wahr­nehmen, werden mit immer höheren Krankenkassenprämien bestraft. Soll sich also niemand wundern, wenn wir uns, wie von Daniel Oertle kürzlich in dieser Zeitung trefflich beschrieben [2], noch schnell in der Sport­klinik ein MRI holen.
Aber Achtung, jetzt wirds konkret: Wer genau nimmt seine Eigenverantwortung nicht wahr und soll ergo mehr bezahlen? Alle ab BMI 25? Oder 30? Muss ein Ernährungsprotokoll geführt werden? Gibt es Sanktionen ab fünf, zehn oder 40 Zigaretten pro Tag? Wie hoch soll die Mindestfranchise sein, damit einerseits verhindert werden kann, dass die Leute wegen Bagatellen zum Arzt rennen, und andererseits niemand mit dem Arztbesuch wartet, bis es zu spät ist? Gemäss dem neuesten Commonwealth-Bericht [3] hat sich zwischen 2010 und 2016 der Anteil der Erwachsenen in der Schweiz, die aus finanziellen Gründen auf medizinische Leistungen verzichtet haben, von 10,3 auf 22,5 Prozent ­erhöht. In keinem europäischen Land ist der «Out of pocket»-Anteil, also die Gesundheitsausgaben, die durch keine Versicherung gedeckt werden, so hoch wie hierzulande. Wer wie santésuisse und die Mehrheit des Parlaments die Forderung nach höheren Franchisen zwecks Förderung der Eigenverantwortung hervorholt, sollte auch bedenken, dass die Prämien und Kostenbeteiligungen sich seit 1996 mehr als verdoppelt ­haben, während die Löhne um lediglich 23 Prozent stiegen. Wir sind seit zwei Jahrzehnten dabei, die Last der Gesundheitsfinanzierung zu den sozial benachteiligten und chronisch kranken Menschen zu verschieben. Damit fördern wir nicht die Eigenverantwortung, sondern lehnen es ab, Verantwortung für die Gemeinschaft wahrzunehmen.
anna.sax[at]saez.ch
1 NZZ vom 8. Dezember 2016.
2 Oertle D. Die Hausärzte sterben aus: Na und? Schweiz Ärztezeitung. 2016;97(51–52):1804–5.
3 International Health Policy Survey 2016 des Commonwealth Fund.