Medizin-Entfremdung

Horizonte
Ausgabe
2017/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05442
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(14):458–459

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Mitglied FMH

Publiziert am 05.04.2017

Bei der Entäusserung seiner selbst, dem Aus-sich-Heraustreten, beziehungsweise der Entfremdung von sich selbst, dem endgültigen Verlassen des eigenen Wesens, handelt es sich um Begriffe, denen wir sowohl im beruflichen Alltag als auch in verschiedenen philosophischen Schriften begegnen. Die Erstere kann durchaus als ein positives Geschehen verstanden werden, besonders weil es sich hier in der Regel eher um einen zeitlich limitierten Vorgang handelt, während die Entfremdung in einen unerwünschten Dauerzustand führen kann, der dann häufig pathologische Züge aufweist. Das vorübergehende Verlassen des gewohnten, persönlichen Istzustandes kann zwar zu Konflikten mit sich selbst und dem sozialen Umfeld führen, bildet aber andererseits öfters die Grundlage herausragender individueller Leistungen. Gerade in der Medizin, wo ohne aufgeschlossenes und utopisches Den­ken kein wirklicher Fortschritt denkbar ist, sind wir auf aussergewöhnliche Persönlichkeiten angewiesen, die bereit sind, individuelles Risiko und bedeutende private Opfer zum Wohle der Allgemeinheit auf sich zu nehmen. Man denke in diesem Zusammenhang an die unermüdlichen Pioniere der Infektiologie oder der klinischen Radiologie, die in ihrem Forscherdrang oft kaum an die eigene Gesundheit dachten. Meist hält sich aber in diesen Fällen das Phänomen der Entäusserung in Grenzen, und der Mensch findet dann, durch die intensiv gelebte Erfahrung eher bereichert, wieder zu sich selbst zurück. Dies gilt auch für anderweitiges Ausser-sich-Treten, zum Beispiel während der Fasnachtszeit, dem manchmal sogar indivi­duell- und sozialtherapeutische Wirksamkeit zugesprochen wird.

Entfremdung und Sich-Wiederfinden

Im philosophischen Denken von Georg Wilhelm Friedrich Hegel bildet das in umfassenderer Einheit Sich-Wiederfinden des zeitweilig Entäusserten die Grundlage der Entwicklung des Menschen und seiner spezi­fischen Geschichte. Diesem durchaus positiv zu wertenden Geschehen stellt Hegel die Entfremdung gegenüber, das krankhafte definitive Verharren in einem dem eigenen Wesen fremden Zustand, der dann nicht mehr in eine neue Einheit integriert werden kann. Als Entfremdung des Menschen zu werten wäre beispielsweise eine ­dauerhaft bestehende Sklaverei, während ihr epochenmässiges Auftreten durchaus als eine notwendige Durchgangsstufe in der geschichtlichen Entwicklung der menschlichen Gesellschaftssysteme gelten kann. Hegel will sein Denkmodell auch im Bereich der Medizin anwenden und bezeichnet die Krankheiten, die uns im Laufe des Lebens befallen, nur als ein zeitweises Hin­austreten aus der Gesundheit. Erst in der defini­tiven Negation der Letzteren meint er eine Entfremdung und dadurch einen eigentlich pathologischen Zustand zu erkennen.
Im medizinischen Fachgebiet lassen sich eine indivi­duelle und eine institutionelle Form der Entfremdung, dieses definitiven Sich-selbst-Verlierens, auseinanderhalten.
Im ersten Fall sind die einzelnen Akteure, vorab Per­sonen aus dem Ärztekreis, betroffen. Es kann sich dabei um ein gestörtes Verhältnis zu sich selbst oder um ­soziale Vereinzelung handeln. Häufig ergeben sich ­solche pathologische Zustände infolge überhöhter ­Ansprüche an den eigenen ökonomischen Status oder an die berufliche Karriere. Der so in seinem selbst gesponnenen Netz Gefangene findet öfters im Verlauf der Zeit keinen Ausgang mehr aus einem Teufelskreis, in den immer mehr von seinem ursprünglichen Wesen hineingerät. Dieses verarmt nicht selten bis zur Unkenntlichkeit, gerade für die Mitmenschen, die dem Entfremdeten einst nahegestanden haben. Auch wenn der Betroffene die ersten Phasen dieser Fehlentwicklung in einer gewissen Euphorie erleben mag, schlägt diese dann häufig ins Gegenteil um und macht einer Leere und subdepressiven Gereiztheit Platz, die durchaus krankhafte Züge annehmen und zum Burn-out führen kann.
Die institutionelle Entfremdung tritt im Bereich der ­Medizin im Rahmen von einseitiger Verwissenschaft­lichung und technischer Spezialisierung auf, die eine patientengerechte, sinnvolle Anwendung der Heilkunde in zunehmendem Masse negativ beeinflussen. Aristoteles beschrieb neben der Meisterschaft des Machenkönnens und Herstellens, der Techné, auch die Phro­nesis, den praktischen Sinn für das Tunliche in der Anwendung der Letzteren. Das Wesen jedes Berufes umfasst beide Aspekte, und der Fachmann entfremdet sich beim Verlust einer der beiden Fähigkeiten von seinem ursprünglichen Selbstverständnis. So arbeitet der hochspezialisierte Arzt immer mehr am fachspezifischen Fliessband und verliert damit zunehmend an Phronesis, an sinnstiftender Anwendung seines Könnens, während der allgemein tätige Mediziner das einst Gelernte immer weniger selbst ausführt und so in stets höherem Masse der Techné, der praktischen Ausübung seines Berufes, verlustig geht.

Homo homini deus est

Ludwig Feuerbach hat im Anschluss an das Denken Hegels sich besonders mit der Problematik einer dauerhaften Entfremdung auseinandergesetzt. Er erkennt eine solche in der Religiosität, und dies vor allem in der dogmatischen Tradition des Christentums. Der Glaube an eine Gottheit, von der der Mensch sich lenken lässt und vor deren schierer Grösse und allmächtiger Güte er selbst in Bedeutungslosigkeit und Sündhaftigkeit versinkt, ist für Feuerbach nichts anderes als eine Auslagerung positiver spezifisch menschlicher Eigenschaften in ein jenseitiges Fantasieprodukt. Der Gläubige hat sich von sich selbst entfremdet, indem er gewissermassen das Tafelsilber seiner Humanität, wie Liebe, Verstand, Willenskraft und Gerechtigkeit, an Gott verpfändet hat. Um sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien, braucht er aber vorerst noch die Religion, um die einst abgegebenen Pfänder ausserhalb seiner selbst wieder auffinden und einlösen zu können. So wird es möglich, diese dann wieder ins Individuum und sein diesseitiges Leben zu integrieren. Feuerbach geht also nicht so weit wie die Denker der Aufklärung, die alle Religion als Irrtum und Aberglauben strikt ­ablehnten und so gleichsam das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und die Entfremdung des Menschen von sich selbst zementiert haben. Er will nur Gott als jenseitiges Wesen abschaffen, dessen Eigenschaften möchte er aber als innermenschliche Werte dauerhaft beibehalten. Homo homini deus est, der Mensch ist des Menschen Gott, schreibt Feuerbach und macht so die Theologie, das Wissen um Gott, zur religiösen Anthropologie, zum Studium dessen, was Gott für den Menschen bedeutet.
Dieses am Beispiel der Religion erläuterte In-sich-Zurücknehmen einst veräusserter Werte, lässt sich ohne weiteres auch auf die oben beschriebenen Formen beruflicher Entfremdung anwenden, einerseits als persönliche Chance, wieder zu sich selbst zu finden, und andererseits als Auftrag an jeden Arzt und jede Ärztin, am Ideal einer weitgefächerten Tätigkeit festzuhalten.
Dr. med. J. P. Schwarzenbach
Medicina generale FMH
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jann.schwarzenbach[at]
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