Nationale Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten 2017–2024: Herausforderung an Ärzte und Politiker zur transparenten Kommunikation

Herausforderung an Ärzte und Politiker zur transparenten Kommunikation

Tribüne
Ausgabe
2017/2122
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05526
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(2122):700–702

Affiliations
Dr., Facharzt Pneumologie und Innere Medizin, Mitglied der FMH

Publiziert am 24.05.2017

Einleitung

Nicht übertragbare Krankheiten (noncommunicable ­diseases, NCD) sind ein grösseres Problem der öffent­lichen Gesundheit in Industrienationen. Die WHO [1] schätzt, dass jährlich 40 Mio. Menschen an NCD sterben; für die alternde Gesellschaft der Schweiz sind NCD besonders belastend. Dies führte zur Nationalen Strategie Prävention der nichtübertragbaren Krankheiten2017–2024 [2]. Sie beziffert direkte Gesundheits­kosten für die Schweiz auf 70–80 Mrd. CHF/Jahr, von denen 80% auf NCD entfallen. Etwas weniger als die Hälfte werden von Krebs, kardiovaskulären, Atem­wegskrankheiten, Diabetes und Krankheiten des Bewegungsapparates verursacht, alle der Prävention ­zugänglich.
Diese Zeilen beschreiben die Nationale Strategie der NCD und ihre Herausforderungen an Ärzte, Gesundheitsorganisationen und Politiker.

Nationale NCD-Strategie 2017–2024 [2, 3]

Erarbeitet vom Bundesamt für Gesundheit (BAG), ist sie von Bundesrat Alain Berset und den kantonalen Gesundheitsdirektoren gezeichnet; für den Massnahmenplan zeichnet auch Gesundheitsförderung Schweiz.
Der Grundton ist im Vorwort [3] gegeben: «setzt auf […] Erfahrungen aus den bisherigen Präventionsprogrammen Tabak, Alkohol, sowie Ernährung und Bewegung […] Projekte von Bund, Kantonen, Gemeinden, der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz und zahlreicher weiterer Akteure. […] Neu ist, dass alle […] noch enger zusammenarbeiten». Der Plan nennt drei Hauptmassnahmen: a. bevölkerungsbezogene Gesundheitsförderung/ Prävention; b. Prävention in der Gesundheitsversorgung; und c. Prävention in Wirtschaft und Arbeitswelt. Fünf Querschnittsmassnahmen werden genannt: Koordination/Kooperation; Finanzierung; Monitoring/Forschung; Information/Bildung; Rahmen­bedingungen.
Gesetzgeberisch wird der Bund nicht aktiv. «Bevölkerungsbezogene Gesundheitsförderung und Prävention […] auf kantonaler Ebene geplant und durch NGOs, Städte und Gemeinden umgesetzt.» Das Dokument ­betont im dritten Massnahmenbereich «die Rolle der Wirtschaft für die Gesundheit der Bevölkerung. […]Massnahmen in diesem Bereich sind freiwillig.»
Die bereichsübergreifenden Massnahmen werden den Bundesämtern zugewiesen (BAG, Lebensmittelsicherheit, Landwirtschaft, Tabakpräventionsfonds, Alko­holverwaltung, SECO, Zollverwaltung u.a.). Dadurch werden strukturelle Massnahmen (gesetzliche Regelungen) indirekt erwähnt, die das Umfeld für «make the good choice the easy choice» schaffen.
Die Leserin / der Leser vermisst somit eine klare Nennung von Public-Health-Massnahmen der Verhaltens­prävention (Empfehlungen, welche darauf abzielen, das Verhalten von Bevölkerung sowie Akteuren zu beeinflussen) und der Verhältnisprävention (strukturelle Mass­nahmen, die Rahmenverhältnisse verändern). Dieses Prärogativ des Staates kommt zu kurz. Kein anzustrebendes Gesetz wird identifiziert. Als «Rahmenbedingungen» werden genannt: Velowege, Erhaltung von ­Natur- und Erholungsräumen, Angebote in Kantinen am Arbeitsplatz und in Schulen. Vage werden formuliert: «freiwillige Selbstverpflichtungen für gesunde Nah­rungs­mit­tel­zusam­men­set­zung (mit weniger Zucker, weniger Salz oder weniger Fett) oder Bewegungsförderung bei der Belegschaft. Als besonders wirksam haben sich gesetzliche Regulierungen erwiesen, wie Preisgestaltung, Erhältlichkeit, Werbung und Besteuerung gesundheitsgefährdender Produkte und Dienstleistungen wie Alkohol, Zigaretten, aber auch Glückspiel.» Der lückenhafte Schutz der Bevölkerung vor Passivrauch, das Tabakproduktegesetz (TabPG, das durch Werbeverbot die Raucherquoten senken würde) bleiben ungenannt.

Die Mängel

Die Strategie behandelt alle für die Prävention der NCD wichtigen Aspekte. Dabei betonen die Experten des BAG Koordination und wissenschaftliche Begleitung. Diese wird aber bald die offensichtlichen Mängel der Strategie aufdecken:
– nur kantonale/lokale Aktionen und Initiativen
– keine quantifizierbaren Ziele, wie Senken von Quoten Übergewichtiger und jugendlicher Raucher
– keine bundesrechtlich anzustrebenden Regelungen
– keine Analyse der gescheiterten Gesetzesvorstösse, mit dem Ziel, eine mehrheitsfähige strukturelle Prävention vorzulegen
Beeinflusst von Wirtschaftskreisen, haben im BAG ­offenbar Experten überwogen, die den Ist-Zustand verbessern, nicht aber ehrgeizigere Ziele verfolgen, was die Vernehmlassung zur Strategie zeigt [4]. Zwei Drittel der Antworten stimmten dem Entwurf zu, kritisierten aber die fehlende strukturelle Prävention. Deswegen lehnte der Tabakpräventionsfonds sogar das Strategiepapier ab. Dies tat sonst ein Viertel der Antwortenden, alle in der Kategorie Wirtschaft und Versicherer, was folgerichtig ist. Denn in den letzten Jahren blockierten oder de­formierten die mit der Wirtschaft verbündeten Parlamentarier, dem Gewerbeverband und economiesuisse ­folgend, sämtliche Präventionsvorlagen, auch die ­moderatesten: Präventionsgesetz, Alkoholgesetzgebung, Tabakproduktegesetz, Alibi-Bundesgesetz Passivrauchschutz.

Public-Health-Fachwelt

Trotz vergangener Erfahrungen [5] thematisierten die BAG-Fachleute die feindliche Haltung der Wirtschaftskreise nicht. Sie arbeiteten eine Strategie aus, die den Konflikt meidet, indem sie die strukturelle Prävention ausklammert.
Bessere Überzeugungsarbeit der Public-Health-Gemeinschaft ist daher nötig. Strukturelle Prävention, deren bewiesene Wirksamkeit und vermeintliche ­Unvereinbarkeit mit der Wirtschaft können Beamten, Bevölkerung und Parlamentariern erklärt werden [5], um das Vorurteil gegenüber «staatlich verordneter Prävention» abzubauen. Diese seit 2008 von eco­nomie­suisse und Gewerbeverband wiederholte Worthülse vermengte Verhaltens- und Verhältnisprävention und verwirrte. Mit differenzierter Information würde das Abwägen von Partikular- und Gesundheitsinteressen der Bevölkerung einer ra­tionalen Entscheidung zugeführt und die Parole «Prävention = Beschränkung individueller Freiheit» entkräftet. Vor dem unvermeidlichen Interessenkonflikt warnt die WHO: «Non-State actors [of public health] include academia […], as well as selected private sector entities, as appropriate, excluding the tobacco industry» [6]. Das bisherige Verhalten der Tabak- und Getränkeindustrie und der verbündeten Parlamentarier ist unvereinbar mit Prävention und konnte sich nur in einer schlecht informierten öffentlichen Meinung durchsetzen.
Die Public-Health-Fachwelt ignorierte bislang strukturelle Prävention als Öffentlichkeitsarbeit und förderte damit die Desinformation. An Jahreskongressen von Swiss Public Health war weder Tabak noch die Etikettierung der Nahrungsmittel je ein Thema. Der Aufruf von Ärzten an Swiss Public Health 2016, sich während der Debatte um das TabPG öffentlich zu äussern, verhallte [7]. Die NCD-Strategie fordert diese Experten wie alle Ärzte und Gesundheitsorganisationen heraus, ihr Schweigen [8–10] zu brechen und öffentlich zur Meinungsbildung beizutragen.

Ärzteschaft

Ohne strukturelle Prävention zu erwähnen, beschreiben Artikel der SÄZ zur NCD-Strategie [11] die Auf­gaben, welche den Ärzten zufallen [12]. Im Pflege­bereich, in der Aus- und Fortbildung und in der «Interprofessionalität» der Gesundheitsberufe haben sie ihre Rolle. Dr. Quinto, Präventionsverantwortlicher der FMH, nennt die Ziele des Dachverbandes [13]: a. Beitrag zur Gesundheitsförderung, Prävention und Verminderung der Krankheitslast; b. zentrale Rolle in der Gestaltung von Public Health auf nationaler Ebene; c. aktive Beteiligung bei der Umsetzung im Alltag. Dies ist abstrakt. Konkret spricht er die Politik zu sozialen Ungleichheiten als Risikofaktor an: «Eine gute Bildungs- und Gesundheitspolitik könnte diese [Ungleichheiten] reduzieren, wenn auch die anderen Politikbereiche das Problem mitberücksichtigen», und: «Man kann […] nicht immer mehr eigenverantwortliches Handeln ­erwarten und andererseits eine rückständige und geschwächte Verhältnisprävention politisch verantworten. Es ist unethisch zu sagen, ‘du darfst nicht rauchen’, aber gleichzeitig die Zigarette aus rein kommerziellen Gründen den Jugendlichen an Events und Veranstaltungen vor der Nase zu schwenken.»
Ärzte und Public-Health-Experten verfügen auch über wirtschaftliche Argumente, um von struktureller Prävention zu überzeugen [14]: Die direkten Kosten nur der Herz-Kreislauf-Krankheiten und der Atemwegserkrankungen belaufen sich auf über 10 Mia. bzw. mehr als 1,5 Mia. CHF/Jahr. Deren indirekte Kosten (Produktivitätsverlust durch krankheitsbedingte Abwesenheit u.a.) werden auf 5–6,5 Mia. bzw. auf 0,5–3 Mia. CHF berechnet. Einfluss haben darauf Raucherquoten, welche vom Werbeverbot im TabPG abhängen. Dazu das BAG-Faktenblatt: «Ein in die Tabakprävention investierter Franken bringt Kostenersparnis von 41 CHF.»

Gesundheitspolitiker

Im Dezember 2016 gründeten die Ständeräte Hans Stöckli und Joachim Eder mit der Nationalrätin Ruth Humbel und 34 Parlamentariern die Gruppe NCD, um das Thema NCD in der Politik zu verankern. Diese ­Parlamentarier werden ihre Kollegen überzeugen ­müssen. Denn offensichtlich begünstigen diese die Tabak­industrie gegenüber höheren Interessen. Die ­Argumente, wie «wir wollen Jugendschutz ohne Werbeverbote», welche 2016 zur Rückweisung des TabPG gegen Treu und Glauben aufgeführt wurden, zeigten, dass NCD ­ihnen nichts bedeuten. Im Februar 2017 segnete der Ständerat [15] das «Weihnachtsgeschenk» des Nationalrates ab [16]: Dem Bundesrat wurde die Kompetenz entzogen, durch Steuererhöhungen den Zigarettenkonsum zu bremsen (Preisaufschläge von >10% sind hiezu wirksam). Die letzte Steuererhöhung erfolgte 2013, was den Firmen seither ermöglichte, die ­Zigarettenpreise in Schritten zu erhöhen, ohne den Konsum zu drosseln. Im Klartext: Der Bund verzichtet auf Einnahmen und erlaubt der Industrie, ihre Gewinnmargen zu verbessern. Eine wirksame NCD-Strategie bedeutet Eindämmung der von Kartellen aus ­unserem Land pilotierten Tabakepidemie, wie von der FCTC-Konvention der WHO gefordert. Keiner der Mehrheitsparlamentarier hat diese Konvention in dieser Legis­latur auch nur erwähnt.

Schlussfolgerung

Fehlende nationale strukturelle Prävention ist der Hauptmangel der Nationalen NCD-Strategie 2017–2024. Damit weicht das Papier dem Interessenkonflikt zwischen der Tabak-/Nahrungsmittelindustrie und wirksamer Prävention aus. Denn kantonale strukturelle Massnahmen, «freiwillige» Initiativen, sowie die «Selbst­kontrolle der Werbung» werden sich gegenüber globalen Marketing- und PR-Gegenstrategien dieser Indus­trien als nutzlose Feigenblätter erweisen.
In feindlichem Umfeld sind Ärzte, Präventionsfachleute, Gesundheitsorganisationen und die parla­mentarische Gruppe NCD gefordert, durch sachliche wissenschaftliche Argumente zu überzeugen. Diese werden Bevölkerung und Parlamentariern das Zusammenspiel zwischen Rahmenbedingungen, Lebensstil und der NCD augenfällig machen. «Eigenverantwortung statt Bevormundung», «Werbung ist Information des Konsumenten» und «legale Produkte dürfen beworben werden» sind systematisch auch in den Medien zu hinterfragen. Ärzte und Gesundheitsexperten mit motivierten Volksvertretern werden durch transparente Kommunikation eine öffentliche Meinung bilden, die das Parlament nicht mehr ignorieren kann. Strukturelle Prävention wird dann nicht mehr wie eine Frage von rechts oder links diskutiert werden, sondern als eine der intellektuellen Redlichkeit: ob das finanzielle Interesse der Industrien, welche das Public-Health-Problem Tabak / der Ernährung (mit-)verur­sachen, höher als die Volksgesundheit einzuschätzen sei. Public Health works, if there is political will. Die NCD-Strategie fordert den politischen Willen von Ärzten und Gesundheitsberufen heraus. Test erfolgreicher interprofessioneller Zusammenarbeit zum Aufbau einer öffentlichen Meinung wird die Parlamentsdebatte zum revidierten TabPG sein, und die Ratifizierung der FCTC.
Dr. Rainer M. Kaelin
53, Plantay
CH-1163 Etoy/VD
palmier.kaelin[at]bluewin.ch
 1 WHO global status report on noncommunicable diseases. Fact sheet, updated 2017. http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs355/en/
 2 BAG und Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren:
Die nichtübertragbaren Krankheiten: eine Herausforderung. Nationale Strategie der nicht übertragbaren Krankheiten 2017–2024. Kurzversion. April 2016. www.bag.admin.ch
 3 Massnahmenplan zur Nationalen Strategie Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD-Srategie) 2017–2024.
 4 Bundesamt für Gesundheit: Bericht über die Ergebnisse der Konsultation zur Nationalen Strategie Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD-Strategie). Dezember 2015.
 5 J. Cornuz, B. Burnand, I. Kawachi, F. Gutzwiller, F. Paccaud: Why did Swiss citizens refuse to ban tobacco advertising? Tob. Control 1996;5:149–53.
 6 WHO action plan for the prevention and control of noncommunicable diseases, 2013–2020.
 7 R. M. Kaelin mit 88 Mitunterzeichnern: Offener Brief an Swiss Public Health; Schweiz Ärztezeitung 2016:97(21);741.
 8 R. M. Kaelin: Prävention ist Ärztesache – transparente Kommunikation ist ihre Grundlage. SÄZ; 2013:94.31/32.1180–3.
 9 R. M. Kaelin: Le silence des experts médicaux. II. La responsabilité publique des médecins dans la prévention du tabagisme; III. La responsabilité publique des médecins au sujet de l’initiative «Protection contre le tabagisme passif». Bioethica Forum. 2015;8(3):70–2; 2015;8(4):135–7.
10 R. M. Kaelin: Schweigen zur Initiative «Schutz der Bevölkerung vor Passivrauch». Zur öffentlichen Verantwortung der Ärzte – Teil 2. SÄZ. 2015;96(19):700–2.
11 E. Bruhin: Strategie der nichtübertragbaren Krankheiten. SÄZ 2016;97(48):1672–3.
12 C. B. Quinto, B. Weil, et al.: Die Rolle der Ärzteschaft im NCD-­Arbeitspaket 2. SÄZ. 2017;98(4):100–2.
13 Spectra. 18.01.2017. Interview mit Dr. Carlos Beat Quinto. www.spectra-online.ch
14 Nationale Präventionsprogramme: Studie präsentiert erstmalige Berechnungen der direkten und indirekten Kosten der wichtigsten nichtübertragbaren Krankheiten. Bulletin BAG, 1.9.2014.
15 Pressemitteilung vom 28.2.2017. ATS.
16 Nationalrat, Wintersession 2016, zwölfte Sitzung , 14.12.2016. Tabaksteuergesetz. Modifikation. Objekt 16.051. www.admin.ch/Parlement/Nationalrat