Wenn der Arzt zum Patienten wird …

Leben und Krankheit eines ­Neurochirurgen

Zu guter Letzt
Ausgabe
2017/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05527
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(18):596

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 03.05.2017

Das Buch [1] wurde 2016 unter dem Titel When breath becomes air in den USA veröffentlicht und hat dort für viel Aufsehen gesorgt. Es erzählt die Geschichte eines vielversprechenden jungen Arztes, der gerade seine Fachbildung in der Neurochirurgie in Stanford abschliesst. Anfang 2013 ist er 36 Jahre alt, als sich sein Gesamtzustand verschlechtert. Zunächst führt er dies auf die Arbeits­belastung zurück, dann wird bei ihm ein fortgeschrittenes Lungenkarzinom diagnostiziert. Eine erste Behandlung lässt die Erkrankung abklingen, und er kann seine Arbeit als «Chief Resident» wieder aufnehmen. Ein Jahr später: Rückfall und Entwicklung hin zum tödlichen Ausgang im März 2015. Paul Kalanithi fühlte sich schon immer zum Schreiben hingezogen (er absolvierte auch einen Master in Literatur) und wollte der Nachwelt ­daher dieses Buch-Vermächtnis hinterlassen. Als Sohn einer aus Indien stammenden Mittelklassefamilie, die sich in der Nähe von New York und später in Arizona niedergelassen hatte, studierte er Medizin in Yale und danach in Stanford. Er starb in dem Moment, als er sich um eine Professur hätte bewerben können.
Der erste Teil erzählt über die Jugend und die Studien des Autors und über dessen existenzielle Sinnsuche sowie über sein Interesse an menschlichen Beziehungen. Der zweite widmet sich den zwei Jahren seiner Erkrankung mit der entsprechenden Betreuung, vielfältigen Fragen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Paul Kala­nithi spricht vom Statuswandel, wie er vom kompetenten, geschätzten Arzt zum schwer erkrankten Patienten (im selben Spital) wurde, von der Beziehung zu Kollegen, die plötzlich Therapeuten geworden waren. «In diesem Moment zählte meine Identität als Arzt nicht mehr […]. An Stelle des leitenden Hirten fand ich mich – hoffnungslos verloren – als Schaf wieder.» «Ich war nicht mehr Subjekt meiner Lebensbeschreibung, sondern Satzergänzung, also direktes Objekt.» Worte seines Onkologen: «Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich schätze es, wenn wir das Behandlungsprotokoll gemeinsam erstellen. Sie sind Arzt. Sie wissen, von was Sie sprechen. Aber es ist auch in Ordnung für mich, wenn Sie sich ganz auf mich verlassen möchten.»
Die Veröffentlichung wurde durch seine Ehefrau Lucy ­ermöglicht. Sie schrieb einen umfangreichen Epilog: «Dieses Buch ist das Werk eines unermüdlichen Arbeiters, gleichzeitig aber auch das Vermächtnis eines Mannes, dem nur wenig Zeit blieb.» «Paul stützte sich auf seine innere Kraft und auf seine Familie, um die einzelnen Abschnitte im Krankheitsverlauf mit Haltung angehen zu können – nie mit Blindheit oder deplaziertem Glauben an eine unwahrscheinliche Heilung. Er schaffte sich dadurch die Möglichkeit, um die geplante Zukunft trauern zu können und damit eine neue zu erschaffen.»
Aber auch: «Aus dem Buch werden unsere Freunde erstaunt erfahren, dass Paul und ich auch Eheprobleme hatten. Ich möchte diese Probleme jedoch nicht missen, denn sie sind ein Teil unseres Lebens, den wir neu gestalten mussten, sozusagen eine Vergebung.»
Paul und Lucy führten lange Debatten darüber, ob sie trotz seiner Krankheit versuchen sollten, ein Kind zu haben. Die Entscheidung fiel sehr schwer; es ging dabei um das «beste Interesse» – für die Zukunft – und das Wohlergehen der einen Seite und der anderen. Sie entschieden sich dafür, und ihre Tochter Cady hat die letzten Monate ihres Vaters beglückt.
Und abschliessend: «Obwohl nicht mehr die brilliante, starke Persönlichkeit, in die ich mich verliebt hatte, ist es doch der Paul des letzten Jahres, der zerbrechliche Schriftsteller, der mir am meisten fehlt […]. Das Schicksal, das Paul ereilte, ist tragisch. Er selbst war es jedoch nie.» Dazu auf der letzten Seite: «Das Schreiben war extrem hart für ihn. Er gab jedoch nie auf. Das Werk ist abgeschlossen, so unvollendet es auch sein mag.»
Ich habe neulich Krankengeschichten gelesen [2, 3]. Sie waren sehr unterschiedlich geschrieben. Bei dem französischen Musiker Malzieu ist es Humor und Poesie, bei dem Philosophen Ogien ist es die soziomedizinisch geprägte Reflexion [3]. Bei Kalanithi – Sohn von Einwanderern – spürt man die Kraft des «amerikanischen Traums», der «harten Arbeit», die Konzentration auf eine tadellose medizinische Praxis, sowohl was die technische Seite anbelangt als auch in Bezug auf die ­Beziehung zum Patienten.1
jean.martin[at]saez.ch
1 Kalanithi P. Bevor ich jetzt gehe – Was am Ende wirklich zählt – Das Vermächtnis eines jungen Arztes. Paris: Albrecht Knaus Verlag; 2016.
2 Martin J. L’aplasie médullaire d’un patient plein d’humour. Schweiz Ärztezeitung. 2016;97(46):1630.3
3 Martin J. Mes Mille et Une Nuits. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(13):420–1.