Visitiert und dabei gedacht …

Zu guter Letzt
Ausgabe
2017/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05552
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(17):552

Affiliations
Dr. med., Präsident des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung SIWF

Publiziert am 26.04.2017

Kürzlich habe ich an zwei Visitationen von Weiterbildungsstätten teilgenommen. Visitationen sind ein wichtiges Instrument der Qualitätssicherung in der Facharztweiterbildung und werden jeweils nach einem Wechsel in der Leitung einer Weiterbildungsstätte durchgeführt oder wenn zum Beispiel aufgrund der jährlichen Umfrage bei den Assistenzärztinnen und -ärzten Hinweise auf Probleme auftauchen. Der Visita­tionsleiter ist ein Experte des betreffenden Faches. Er wird von einem fachfremden Experten, der vom Schweizerischen Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung SIWF gestellt wird, und von einer Vertreterin oder einem Vertreter des Verbandes der Schweizerischen Assistenz- und Oberärzte VSAO begleitet. Das Team macht sich ein umfassendes Bild von den Weiterbildungsbedingungen, indem es Gespräche mit der Spitaldirektion, mit der Klinikleitung, mit Kaderärzten und unter absolut zugesicherter Anonymität mit Ärztinnen und Ärzten in Weiterbildung führt. Daraus resultiert ein Bericht, zu dem die Leitung der Weiter­bildungsstätte Stellung nehmen kann und der den Vorschlag für die Anerkennung und allfällige verpflichtende Auflagen oder Empfehlungen enthält. Der Rapport geht an die Weiterbildungsstättenkommission, die den formellen Entscheid zu fällen hat.
Pro Jahr finden über hundert Visitationen statt. Sie stos­sen auf weitgehende Akzeptanz und sind auch Gegenstand des Interesses aus dem Ausland. Weltweit sind Evaluationssysteme mit «site visits» auf dem Vormarsch, und wir hören immer wieder als Echo die Feststellung, dass die Visitation der Anlass war, das interne Weiterbildungskonzept zu diskutieren und zu aktualisieren.
So weit, so gut. Allerdings liefern die Visitationen über lokale Fragen hinaus auch immer wieder Stoff zum Nachdenken oder Grund zur Besorgnis. Zwei Themen stehen im Vordergrund: zum einen das Spannungsfeld Lernen/Dienstleistung und zum anderen – heute natürlich damit verknüpft – die zunehmenden ökonomischen und primär effizienzorientierten Rahmenbedingungen an den Weiterbildungsstätten mit der damit einhergehenden Zunahme der administrativen Belastung.
Es gibt Länder, wo die Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung vom Gesundheitsministerium oder von einer vergleichbaren öffentlichen Organisation bezahlt werden und wo die Spitäler sogar eine Entschädigung für die Ressourcen erhalten, die sie für die Schulung bereitstellen müssen. Diese Systeme gehen oft mit intensiver Steuerung einher. Unser liberaleres System dagegen entspricht eher einer «Lehre», bei der die Weiterzubildenden ihren Beitrag zum Aufwand in Form ihrer Dienstleistung erbringen.
Die Entwicklungen im Gesundheitswesen belasten das notwendige Gleichgewicht Lernen/Arbeiten nun aber zunehmend. Der ökonomische Druck, der Zwang zur weitestgehenden Effizienzsteigerung und die Aufblähung administrativer Arbeiten beginnen, die Qualität der Weiterbildung zu bedrohen. An vielen Visitationen schildert ein Spital- oder Klinikdirektor mit sichtlicher und aus seiner Sicht einfühl­barer Genugtuung eine Zunahme der Konsultationen oder der Patientenzahlen über die vergangenen Jahre. Das erinnert einen unabhängig von allen Bildungs­aspekten daran, dass niemand in einer solchen Funktion für einen Rückgang dieser Zahlen und damit für einen Sparbeitrag zum Gesundheitswesen Lob und Anerkennung erhält – ganz im Gegenteil!
Der notwendige Ausbau der ambulanten Sprechstunden oder der gesteigerte «Patientendurchlauf» mit kürzerer Aufenthaltsdauer auf den Stationen steigert mehr und mehr die Belastung der lernenden Ärztinnen und Ärzte. Diese Entwicklungen mögen sich zwar positiv auf die Anzahl von gesehenen Fällen auswirken, an immer mehr Orten beginnt das Negative aber zu überwiegen: Weniger Zeit für den Kontakt mit den Patienten und für die klinische Schulung, Versinken in der Büroarbeit, Dienstpläne, die keine Kontinuität erlauben, und Kaderärzte, die gleichzeitig die verschiedensten Verpflichtungen erfüllen sollten. Auch die gedrängten Operationsprogramme haben unerfreuliche Auswirkungen auf die praktische Weiterbildung in den chirurgischen Fächern, haben doch die Lehrenden immer weniger Zeit, einer jungen Kollegin oder einem jungen Kollegen «die Hand zu führen».
Visitiert und dabei gedacht: Wir haben zweifellos eine Facharztweiterbildung auf hohem Niveau, aber wir sind verpflichtet, ihr in einer Zeit der Strukturveränderungen und Umbrüche im Gesundheitswesen ganz bewusst Sorge zu tragen. Sie sichert die Qualität der ärztlichen Versorgung in Zukunft und kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Deshalb müssen Wege ge­funden werden, den an einzelnen Orten zu bröckeln beginnenden Stellenwert der Lehre auf allen Stufen der ärztlichen Bildung gegenüber anderen Spital- und wissenschaftlichen Funktionen zu stützen und zu heben.
Oder wie sagte doch W. Osler: «The work of an institution in which there is no teaching is rarely first class.»
werner.bauer[at]saez.ch