Weckruf für eine Zeitenwende

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2017/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05611
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(18):561

Publiziert am 03.05.2017

Weckruf für eine Zeitenwende

Brief zu: Hoppeler H, Müller J, Lauper M. Die Utopie einer günstigeren Gesundheitsversorgung. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(14):452–4.
Wie der Artikel beweist, ist es Mode geworden, dass auch Mediziner das Lob der Ökonomie singen und uns vorgaukeln, dass mit ­immer mehr, immer differenzierteren und ausgeklügelteren ökonomischen Instrumenten sich ein günstigeres Gesundheitswesen realisieren liesse. Seit der Einführung des KVG mit dem Herzstück Wirksamkeit-Zweckmässigkeit-Wirtschaftlichkeit verkünden uns die Gesundheitsökonomen jeglicher Couleur diese Botschaft. Wahr an ihr ist nur, dass seit Einführung der unzähligen ökonomischen In­strumente sich die Kosten nicht nur nicht stabilisierten, sondern immer stärker anstiegen. Kurzum, die Ökonomie ist an ihrem eigenen Anspruch grandios gescheitert. Zwar hat sie sich von der Dienerin zur Herrin aufgeschwungen und die Spitäler in Profitzentren zergliedert, ihnen ökonomisch orientierte Verwaltungsräte aufgepfropft, die Leitenden Fachleute aus Medizin, Pflege und Therapien zu Kopfnickern degradiert und die Politik entmachtet. Nur das Problem hat sie nicht gelöst, das zu lösen sie antrat: die Kostensteigerung zu stabilisieren. Sie konnte es nicht, weil sie selber das Problem ist. Ökonomischer Sachverstand im Gesundheitswesen ist zwar nötig, reicht aber allein nicht aus. Es braucht auch Wissen und Verständnis darüber und Erfahrung damit, was kranke Menschen und deren Angehörige wünschen, brauchen, bewegt, verunsichert und antreibt. Ökonomisches Instrumentarium führt da nur in die Irre und bereitet den Weg für Verheerungen, die da sind: unnötige Routinebehandlungen; überhöhte Preise für Medikamente, Mittel und Geräte; Wettbewerb, wo es keinen Wettbewerb gibt; nutzlose Behandlungen; kostentreibende ambulante Spitalbehandlungen; zu unnötigen Behandlungen verleitende Bonussysteme und überbordende Bürokratie. Letztere beansprucht immer mehr Zeit von Ärzten, Pflegenden und Therapierenden. Diese geht ihnen ab von der Zeit für die Behandlung und Betreuung. Damit führt sich die Ökonomie mit ihren Instrumenten selber ad absurdum. Deshalb ist es jetzt höchste Zeit für eine neue, bahnbrechende Strategie, die das Primat der ­einseitig ökonomisch-naturwissenschaftlich ­beherrschten Medizin abschafft und einer Beziehungsmedizin bzw. einer Medizin der Zuwendung (Giovanni Maio) den Weg bereitet. Diese Beziehungsmedizin stützt sich auf die hervorragenden sozial-, medizin- und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in unserem Land. Geleitet würden diese Institutionen von Fachleuten mit Führungs- und menschlicher Kompetenz der genannten Bereiche. Damit erhielten diese wieder den ihnen zustehenden Platz an der Spitze von Gesundheits­institutionen. Dieser wurde ihnen seit der Ein­führung des KVG nach und nach von der Ökonomie abspenstig gemacht. Letztere könnte die Funktion als Dienerin an den Gesundheitsinstitutionen einnehmen, in dem sie die neuen Leitungsorgane berät und ­unterstützt bei der Aufgabe, die finanziellen Mittel voll und ganz zum Wohle der Kranken einzusetzen.
Jedes System hat seine Zeit. Die Zeit des Primats von Naturwissenschaft und Ökonomie im Gesundheitswesen läuft ab. Zeit also, für die Gesundheitspolititk der sich ankündenden Beziehungsmedizin die Tore zu öffnen, sie zu fördern und zu etablieren. Möge sie dabei angetrieben werden von einer Bevölkerung die es leid ist, immer mehr und mehr von ihrem Einkommen für das Gesundheitswesen berappen zu müssen.