… Jürg Steiger, Chefarzt Nephrologie und Transplantationsimmunologie am Universitätsspital Basel und Präsident der Zentralen Ethikkommission (ZEK)

«Vielen können wir eine neue Chance geben»

Horizonte
Ausgabe
2017/3031
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05688
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(3031):971–973

Affiliations
Freier Journalist und Fotograf, Medientrainer, Bern

Publiziert am 26.07.2017

Im Büro fällt der Blick zuerst auf ein Bild aus den Bergen. Kühe sind auf der grossen Schwarz-Weiss-Fotografie zu sehen, Kinder und ein Maiensäss. «Die Hütte meiner Mutter», kommentiert Jürg Steiger, «Falein bei Filisur – ein wichtiger Ort für unsere Familie.» Wir wechseln zum Computer und schauen uns Familienbilder von den Festtagen an, fröhliche Leute an einem grossen Tisch. «Eine starke Truppe», sagt Jürg Steiger.

Wie ein Hausarzt

Es ist ungewöhnlich, dass die Begegnung mit einem Arzt so früh auch zu einer Begegnung mit dem Privaten wird. In der Regel wollen renommierte Fachleute vor allem oder sogar ausschliesslich über ihre Berufswelt sprechen. Dieser Professor spricht über das, was gerade angesagt ist – jetzt zum Beispiel über den Hund, der ihn beim frühmorgendlichen Joggen begleitet, und über seine beiden erwachsenen Töchter, die noch zu Hause leben: «Sie verwandeln unsere Familie in eine WG.»
Wir machen einen kleinen Rundgang. Am Ultraschall, dem Biopsie-Zimmer und dem Urinkämmerlein vorbei kommen wir in die Dialyse-Station. Wir treffen Patientinnen und Personal, scherzen hier und lachen dort. Eine Leitende Ärztin stellt sich als Chefin des Chefs vor, viel Wertschätzung ist auf beiden Seiten spürbar.
Rund 11 000 Dialysen werden im 4. Stock des Klinikums II pro Jahr gemacht, 60 bis 80 Transplantationen werden von hier aus organisiert und überwacht. Dank guter Zusammenarbeit von Chirurgie, Intensivmedizin, Pathologie, Infektiologie, Medizin und Nephrologie sei das Transplantationszentrum Basel national und international führend, stellt Jürg Steiger fest. Eine Aussage hallt nach: «eine starke Truppe.» Als erste in der Schweiz habe diese Klinik eine Lebend-Nieren-Transplantation durchgeführt, der erste Diabetiker weltweit sei hier transplantiert worden und auch auf die ersten blutgruppen-inkompatiblen Transplantationen in der Schweiz sei man stolz hier.
Aber statt in immer höhere Sphären zu entschweben, sagt er im gleichen Ton plötzlich: «Als Nephrologe bin ich eigentlich Hausarzt.» Die meisten seiner Patientinnen und Patienten betreue er sehr eng und über lange Zeit, «das gibt eine enge Bindung, das schweisst zusammen.» Und das wolle er auch dann, wenn es gleichzeitig immer wieder darum gehe, sich professionell abzugrenzen. «Ich dökterle gern, ich will mich kümmern um meine Patienten. Viele erleben denn auch etwas wie eine zweite Geburt nach einer Transplantation. Ja: Vielen können wir eine neue Chance geben.»

Jürg Steiger

Prof. Dr. med. Jürg Steiger wurde 1959 in Basel geboren, wo er auch die Schulen absolvierte und Medizin studierte. Nach dem Staatsexamen 1985 arbeitete er bei Ciba-Geigy und in verschiedenen Spitälern in Basel. 1992 bis 1995 weilte er zu einem Forschungsaufenthalt an der Harvard Medical School und dem Beth Israel Hospital in Boston. Seit 1999 ist er Ordinarius an der Universität Basel, und seit 2000 Chefarzt Nephrologie und Transplantationsimmunologie am Basler Universitätsspital. Seit 2013 ist er dort auch Bereichsleiter Medizin und Mitglied der Spitalleitung. 2016 wurde er von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zum Präsidenten der Zentralen Ethikkommission gewählt. Jürg Steiger ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Töchtern. Er lebt mit seiner Familie in Basel.

Medizin und Ethik

Die Nephrologie habe viel mit Immunologie zu tun, sagt Steiger. Es sei die Breite, die ihn an seinem Fach so fasziniere: «Sie reicht von der Molekularbiologie über klinische Fragestellungen bis zu psychologischen und ethischen Themen.» Als Präsident der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW hat er sich unlängst zur Frage geäussert, ob eine Organspende nach einem begleiteten Freitod ethisch sei oder nicht. «Wenn der Entscheid zum begleiteten Suizid frei und korrekt gefällt wurde und ein Spenderwunsch besteht, sehe ich keine ethischen Einwände», sagt er dazu. Er betont ­allerdings, dass die aktuellen SAMW-Richtlinien den assistierten Suizid nur im Einzelfall und am Lebensende als ethisch vertretbar erachten. Die Frage deutet auf eine übergeordnete Thematik hin: «Der Bedarf an ­Organen ist höher als das Angebot. Oder anders gesagt: Die Transplantationsmedizin krankt am eigenen Erfolg, denn wegen ihrer guten Resultate ist diese Therapieform im Vergleich zu früher für mehr Patienten eine gute Option.» Bei den Nieren sind in Basel rund 50 Prozent Lebend-Spenden. «In Finnland lag dieser Prozentsatz bei Null», erklärt Steiger. «Weil der Chef des dortigen Transplantationszentrums der Meinung war, dies sei unethisch. Wir wissen jedoch, dass Lebend­spenden bessere Resultate erzielen als Transplantationen von Verstorbenen, und dies bei vertretbarem ­Risiko für den Spender. Die häufigste Form der Lebend­spende ist bei uns die Partnerspende. Psychologisch gesehen sei dies nicht gut, sagte man früher», sagt Jürg Steiger. «Heute wissen wir: Die Partnerspende ist psychologisch vielversprechender als die Geschwister-Spende. Beide Partner profitieren, denn man kann beispielsweise zusammen in die Ferien fahren.»
Ethische Fragen stellen sich in Steigers klinischem Alltag immer dann, wenn es für ein Organ mehrere mögliche Empfänger gibt. Das Alter eines Patienten dürfe beim Entscheid wegen einer möglichen Diskriminierung eigentlich keine Rolle spielen. «Aber jetzt stellen Sie sich einmal vor», konkretisiert Steiger: «Sie haben eine junge, alleinerziehende Frau und einen 70-jährigen, alleinstehenden Rentner – wem geben Sie das ­Organ? Oder: Zur Auswahl stehen ein Fabrikbesitzer mit 300 Arbeitern, dessen Fabrik geschlossen werden muss, wenn er kein Organ erhält, und ein einfacher Mechaniker. Wie entscheiden Sie?» Klar sei: «Auch wenn man hier für eine Allokation zugunsten der alleinerziehenden Mutter tendiert, dürfen gemäss Verfassung und Transplantationsgesetz soziale Gründe nicht in die Allokation einfliessen.»
Das «Swiss Organ Allocation System SOAS» hilft, solch heikle Fragen zu beantworten, indem es aufgrund verschiedener Kriterien eine Punkteliste kreiert. «Wie gut ein Organ aus medizinischer Sicht passt, ist ein Kriterium, aber auch die bereits durchgestandene Wartezeit. Die so erstellte Rangliste entlastet mich vom Vorwurf, ungerecht zu sein.»

Herz und Nieren

Redensarten lassen tief blicken. Was bedeutet Jürg Steiger der Satz «Das geht mir an die Nieren»? Gleich wie der Ausdruck «etwas auf Herz und Nieren prüfen» mache dies deutlich, wie wichtig eine Niere als Organ sei, antwortet der Nephrologie-Professor. «Sie ist unsere Kläranlage, regelt unseren Flüssigkeits- und Elektrolytenhaushalt, ist für das Säuren-Basen-Gleichgewicht verantwortlich, macht Hormone. Und weil sie so wichtig ist, hat uns die Natur eine grosse Reserve mitgegeben. Wir brauchen nur rund 10 Prozent der gesamten Kapazität unserer Nieren.» Aber noch einmal die Frage: Was geht Ihnen persönlich an die Nieren? «Wenn zum Beispiel meine Tochter mal von einem Reitwettkampf geknickt nach Hause kommt, dann macht das auch mich traurig», antwortet Jürg Steiger. «Wenn ich mir einen tragischen Film anschaue, dann kann es schon vorkommen, dass meine Augen feucht werden. Aber auch Patientenschicksale gehen mir oft nahe, auch da gehe ich stark mit.»
Das Schicksal eines Patienten ist hier immer wieder der nahe Tod. Dies widerspiegelt unter anderem die Tatsache, dass Jürg Steiger den Schweizerischen National­fonds im Nationalen Forschungsschwerpunkt «Lebensende» vertritt. Er hat dafür eine Machbarkeitsstudie, in Kollaboration die Programmskizze und mit der Leitungsgruppe den Ausführungsplan geschrieben. «Sterben ja oder nein – das ist schon immer wieder ein Thema für mich. Ein Schlüsselerlebnis war eine Patientin, die sterben wollte und mich um einen Dialyse-Stopp bat. Eine Frage, die im Raum lag, war: Spielst du Gott? Nein, ich lasse der Natur ihren Lauf, war meine Antwort.»
Auch jemanden, der gegen seinen Willen dialysiert worden sei, habe er erlebt, erzählt Steiger. «Es gab ein ethisches Konzil, alle waren überfordert. Man kam zum Schluss, dass die Dialyse nicht gestoppt werden dürfe – der Patient starb trotzdem. Eine aufgezwungene Therapie – ein schlechtes Erlebnis.» Als positives Gegenbeispiel kommt ihm sein Grossvater in den Sinn: «Er starb eines natürlichen Todes und war dann noch eine Zeitlang aufgebahrt. Übertragen auf eine andere Ebene: Es ist wichtig, dass ein Mensch in Ruhe gehen kann.»
So betrachtet, sei auch die palliative Medizin ein Teil seines Fachs. «Für mich soll sie nicht abgesondert werden von der früheren medizinischen Betreuung, sondern es geht letztlich um eine Änderung des Therapieziels.» Und Exit – ist dies ein Thema für Jürg Steiger? «Zuhause diskutieren wir solche Fragen oft», sagt er. «Für mich habe ich jedoch nichts aufgeschrieben. Denn ich erlebe es immer wieder, dass Patienten anders entscheiden, wenn sie in einer konkreten Situation sind.»

Der Handwerker

Philosophische Diskussionen sind bei Jürg Steiger Teil des Alltags. Aber er hat auch eine ausgeprägte andere Seite: «Ich mache viel mit meinen Händen». Holzarbeiten zum Beispiel. «Den Tisch für unsere Zeit in Boston habe ich selber gemacht. Und den Wickeltisch für unsere Töchter auch.» Aber auch einen riesigen, mehrfarbigen Drachen hat Steiger selber genäht: «Etwa 1000 Meter Faden waren nötig». Wir schauen ihn uns am Computer an, wie ein Paraglider sieht er aus. Nächstes Bild: Ein breiter Sandstrand in der Bretagne. Jürg ­Steiger in voller Fahrt auf einem metallenen, dreirädrigen Buggy, den er selber zusammengeschweisst hat, gezogen vom Wind in einem selbstgenähten grossen Tuch. «Schon in der Schulzeit habe ich mir selber ­Hosen genäht – und zur Hochzeit erhielt ich eine Nähmaschine geschenkt», erzählt Jürg Steiger ebenso selbstverständlich, wie wenn er über eine Nierentransplantation spricht.
Der Blick des Fragenden fällt auf eine blühende Wiese auf einem Kalenderblatt und auf den roten Bürostuhl. Jürg Steiger schaut die Schwarz-Weiss-Fotografie mit seinen Töchtern und den Kühen an. Träume? «Klettern im Tibet zum Beispiel. Reisen in schönen Landschaften. Und immer wieder an ein kräftiges Meer.» Und sonst? Beruflich?
«Ich bin zufrieden mit dem, was ich mache», sagt er. Und zeigt das Schlüsselbild eines persönlichen Vor­trages, den er letzthin gehalten hat. Da steht: «Work hard – play hard».
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