Ein engagiertes Buch zum Thema «sexueller Missbrauch an Kindern»

Fragmente eines Tabus

Horizonte
Ausgabe
2017/25
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05697
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(25):835–838

Affiliations
a Dr. med., Gynäkologin, Kinder- und Jugendgynäkologie; b Dr. med., Psychiaterin und Psychotherapeutin

Publiziert am 21.06.2017

Ruth Draths, Eve Stockhammer

Fragmente eines Tabus

Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen – über den sensiblen Umgang mit Betroffenen
Göttingen, Bern etc.: Hogrefe; 2017.
104 Seiten, zahlr. Bilder, 26.90 CHF.
ISBN 978-3-456-85710-7

Zwei Schwestern, eine Geschichte

Es war der Onkel, der sich an den beiden vergangen 
hat, acht Jahre lang, regelmässig, bei jedem Besuch. Im Nebenzimmer, wenn die grosse Familie draussen war, wenn die Eltern abgelenkt waren. Adina, die Jüngere, kann sich nicht erinnern, selber Opfer geworden zu sein. Sie musste vor der Türe im Gang stehen und ­aufpassen, dass keiner hineinkommt. Doch Laila, die ­Ältere, weiss genau, dass auch Adina missbraucht wurde, sie hat es durch das Schlüsselloch gesehen. Oft, immer wieder, über Jahre, wie sie selbst auch. Seit sie sechs Jahre alt war.

Laila

Angst beherrschte die Kindheit und frühe Jugend. Angst, dass jemand etwas merkt, dass man ihnen die Schuld gibt, Angst, dass sie ausgestossen würden. Nachts leiden sie unter Albträumen, beide Schwestern. Oft schreit die Jüngere im Schlaf. Beide entwickeln eine Essstörung. Während Laila unter Essanfällen leidet und übergewichtig wird, kann Adina kaum noch essen. Laila macht sich grosse Sorgen um die Jüngere, die untergewichtig ist. Auch Adina ist oft übel, und sie leidet an chronischen Bauchschmerzen, aber niemand erkennt, warum. Immer wieder die Besuche beim Arzt, aber er findet keine Ursache, nur einen unauffälligen Bauch, der wehtut. Der Kinderarzt meint, es sei der Schulstress. Allein kann Laila nicht mit ihm reden, er hat ja auch keine Zeit. Und würde er ihr denn glauben? Sie wagt es nicht, etwas zu sagen.
Abbildung 1: «beschattet» (Buch, S. 31).
Doch dann geht es nicht mehr, Laila kann nicht mehr ertragen, was sie durch das Schlüsselloch beobachtet. Und so erzählt sie der Mutter der Freundin, dass sie und ihre Schwester missbraucht würden. Seit langem, seit Jahren. Mehr kann sie nicht sagen, zu gross ist 
die Angst. Die Mutter der Freundin alarmiert nun die Polizei, und dann geht es rasch. Laila wird auf den Polizeiposten gebeten und befragt. Jetzt, im geschützten Rahmen, erzählt sie alles, zum ersten Mal in ihrem ­Leben. Und sie wird ernst genommen, das spürt sie an den Fragen. Sie legt ihre ganze Hoffnung, dass sich nun endlich etwas ändern könnte, in dieses Gespräch. Doch gleichzeitig hat sie auch grosse Angst, Angst um Adina, die jüngere Schwester, und vor allem Angst, wie die ­Eltern reagieren würden. Die Eltern sollten auf keinen Fall etwas erfahren, das wäre ihr am liebsten. Sie ist sich sicher, dass die Eltern ihr nicht glauben würden. Oder noch schlimmer, ihr vorwerfen, dass sie selber an den Übergriffen schuld sei.
(Im Weiteren, hier nicht wiedergegeben, folgen das ­Gespräch mit der Kindergynäkologin und die kindergynäkologische Untersuchung von Laila. Anschlies­send wird auch das jüngere Mädchen, Adina, in Begleitung der Polizei zur Untersuchung gebracht.)
Abbildung 3a: «spreizend» (Buch, S. 38).

Adina

Ich lerne ein 11-jähriges Mädchen kennen, schlank, zartgliedrig, eher scheu. Sie ist noch ein Kind, die ­Pubertätsentwicklung hat erst begonnen. Sie erzählt ­wenig, aber auch sie macht sich grosse Sorgen. Sorgen um die ältere Schwester, vor allem aber um die Eltern und die kleine Cousine. Sie findet es richtig, dass die Schwester gesprochen hat, und sie bestätigt alles, ­aus­ser den Vorfällen, die sie selbst betreffen. Über sich selber sagt sie nur, dass sie im Gang habe auf­passen müssen. Sie könne sich nicht erinnern, ob 
der Onkel ihr etwas getan habe. Sie könne sich an keine Berührung erinnern, keine Schmerzen. Angst hätte sie aber schon immer vor ihm gehabt, und Albträume. Sie könne seit langem kaum schlafen, kaum essen. Oft sei ihr übel, sie müsse sich auch öfters übergeben.
Adina ist offen, gut zugänglich und bemüht sich, alle Fragen ganz genau zu beantworten.
Abbildung 2: «Blackbox» (Buch, S. 33).
Nach dem Gespräch ist sie mit der Untersuchung einverstanden und kooperiert problemlos. Bei Adina zeigt sich noch deutlicher als bei der Schwester, dass der Eingang in die Scheide weit offen ist. Das Jungfernhäutchen hat viele Einrisse, es ist kaum noch etwas vom Rand erhalten. Und das bei einem Mädchen, das noch nicht in der Pubertät ist! Es besteht kein Zweifel, dass das Häutchen durch wiederholte Penetrationen zerrissen wurde.
Adina spürt überhaupt nichts von der Untersuchung. Selbst bei der Abstrichentnahme zeigt sie keine Reaktion. Sie hat kein Gefühl mehr, der ganze Bereich vom Unterbauch bis zu den Oberschenkeln ist gefühls-
los. Ausgeblendet, wie eine schwarze Box. Es ist das Bild der Dissoziation, der Abspaltung des gesamten Körperteils, er ist aus dem Bewusstsein gestrichen. 
So kann sie sich auch an nichts erinnern, was an ­dieser Körperstelle je passiert ist. Es ist eine psychische Schutzreaktion, typisch bei chronischem Missbrauch.

Theorie

Dissoziation
Wörtlich genommen heisst Dissoziation «Trennung». Dissoziie-ren ist eine Fähigkeit des menschlichen Gehirns, die sowohl in ­Alltags- als auch in Stresssituationen auftreten kann. In der Psychologie versteht man unter Dissoziation die Spaltung von Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalten, die normalerweise zusammengehören.
Vielschichtige Symptome
Typischerweise leiden Menschen nach schweren Traumata (wie beispielsweise nach sexuellem Missbrauch) unter einer bleibenden Dissoziationsstörung. Diese Reaktion tritt meist dann auf, wenn die Person mit den traumatischen Inhalten des Erlebten in Berührung kommt oder sich daran erinnert. Die Symptome sind vielschichtig, sie reichen von Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen über Vorbeiantworten, unerwartetes Weggehen (Fugue) oder Bewegungseinschränkung (Stupor) bis zur Abspaltung des Bewusstseins während einer Handlung. So fehlt dem Opfer sexueller Gewalt manchmal nicht nur die Erinnerung an das Trauma, sondern jegliche körperliche Empfindung im genitalen Bereich. In der therapeutischen Traumaarbeit kann es gelingen, die Dissoziation zu überwinden, fehlende Körperempfindungen oder ausgeblendete Erinnerungen wiederzuerlangen.
Ich bin von diesem Bild erschüttert. Was musste das Mädchen all die Jahre ertragen? Die Angst und der Schmerz, sie zerfressen ihre Kindheit, ihre Lebensfreude. Es wird ein langer Weg sein, sie aus diesem Gefühlszustand herauszubegleiten.
Da Adina nur in Begleitung der Polizistin zur Untersuchung gekommen ist, sage ich ihr nur, dass sie das sehr gut gemacht hat und ich sie in zwei Wochen noch einmal sehen möchte.
Inzwischen hat es ein Gespräch mit beiden Eltern gegeben, der Vater stellt sich nun ganz klar und eindeutig hinter seine Töchter. Er macht sich schwere Vorwürfe und möchte jetzt alles unternehmen, damit es seinen Mädchen besser geht. Er macht sich auch grosse Sorgen um seine Frau, die mit Depression auf die schwierige Situation reagiert. Durch die Opferhilfe ist eine psychiatrische Beratung eingeleitet worden.
Mit dem zweiten Untersuchungsresultat konfrontiert, hat der Täter zugegeben, auch die Jüngere einmal berührt zu haben. Erst im weiteren Verlauf gesteht er, beide Mädchen seit Jahren missbraucht zu haben. 
Über die nächsten Monate konnte ich die Familie der beiden Schwestern begleiten, auch den Vater lernte ich kennen. Er hat sich ganz hinter seine Töchter gestellt und jegliche Hilfe, die geboten wurde, angenommen. Die Mutter steht wegen Depressionen in psychiatrischer Behandlung. Die Mädchen haben sich in der Schule stabilisiert, sie erhalten beide eine Beratung ­wegen der Essstörung. In der letzten Verlaufskontrolle wirkt vor allem Laila sicherer und selbstbewusster. Albträume und Körperschemastörungen sind jedoch noch geblieben.
Werden die Wunden und Narben je heilen?
Abbildung 3b: «Engelchen» (Buch, S. 47).
Dr. med. Ruth Draths
Frauenpraxis Buchenhof
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Dr. med. Eve Stockhammer
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