Offener Brief an Herrn Bundesrat Alain Berset

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2017/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05700
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(23):723

Publiziert am 07.06.2017

Offener Brief an Herrn Bundesrat Alain Berset

Sehr geehrter Herr Bundesrat Berset
Als Vorstehender des EDI und somit «oberster Gesundheits-Chef aller Eidgenossen» haben Sie wahrlich ein schweres Erbe angetreten. 
Sie treffen Ihre Lösungsvorschläge sicherlich nach bestem Wissen und Gewissen, und der geplante Tarifeingriff enthält, aus meiner limitierten hausärztlichen Sicht (mit 7 Jahren Facharztausbildung), durchaus einige begrüs­senswerte Aspekte. Hingegen beinhaltet er auch Elemente, die mir als seit 19 Jahren vollberuflich praktizierender Hausärztin Sorgen bereiten. Über die geforderte Kostenneutralität möchte ich dabei explizit nicht sprechen.
Szenario: Das Schweizer Stimmvolk murrt ob der hohen Steuerlast und fordert Massnahmen. Die Bundesrats-Sitzungen werden fürderhin auf 20 Minuten Sitzungsdauer limitiert (incl. Nachbereitung und Dokumentation). Es wird auch nur für diese Zeit entlöhnt. Sollte die Agenda in dieser Zeit nicht abgearbeitet werden können, müssen eben weitere Sitzungen anberaumt werden. Die allfälligen Vorarbeiten wie Abklärungen, Besprechungen, Informationsbeschaffung, Telefonate, Recherchen etc. werden zu maximal 30 min pro Quartal vergütet, der Rest ist freiwillige Arbeit. Die ­finanzielle Entschädigung findet also, wie o.e., lediglich für die 20-minütigen Sitzungen und die 10 Minuten erlaubte intellektuelle Arbeit pro Monat statt.
Hingegen müssen natürlich die Miete für das Bundeshaus, Personallöhne, Versicherungen etc. jeweils für den gesamten Monat entrichtet werden. Die Ferien der Bundesräte sind selbstredend nicht bezahlt.
Falls eine weitere Analogie gefällig ist: Das Anwaltshonorar (vergleichbare akademische Ausbildungsdauer) bemisst sich in Zukunft, abgesehen von vielleicht einigen wenigen persönlichen Kontakten mit dem Klienten von Mensch zu Mensch, einzig aus der Zahl der Zeilen im Brief an Gericht, Gegenpartei oder Klient. Allfällige geistige Hintergrund­arbeit ist, wie oben erwähnt, pro Klient 30 Minuten pro Quartal möglich. Auch hier müssen selbstverständlich Löhne und Nebenkosten, Miete, EDV etc. vom Anwalt (privat) bezahlt werden.
Minutage für die Konsultationsdauer
Sie haben sicherlich auch früher «Momo» gelesen. Darin ist von «Zeitdieben» die Rede.
Ich möchte noch auf die stossenden zeitlichen Limitationen der Konsultationsdauer und der viel diskutierten «Arbeit in Abwesenheit des Patienten» eingehen.
«Zeit» ist das wichtigste, effizienteste und kostengünstigste Instrument in der Grundversorgung. Quasi nebenwirkungsfrei.
Die steigende Krankheitslast der zunehmend älter und polymorbider werdenden Gesellschaft verlangt nach konzisem und spedi­tivem Management diverser und multipler Erkrankungen, dies ist nicht in allen Fällen in so kurzer Zeit wie von Ihnen zugestanden möglich. Sollte die von Ihnen vorgegebene knappe Konsultationszeit ab dem 1.1.2018 Realität werden, stellen sich folgende Optionen:
– Man bespricht mit dem Patienten jedes Mal nur eines seiner vielleicht 5 bis 7 bis 
10 gesundheitlichen Probleme, er muss halt dann mehrmals kommen. Mit Geh­stöcken, Begleitung durch Angehörige oder Nachbarn, im Rollstuhl oder mit dem Taxi ...
– Man weist den Patienten organspezifisch gezielt den jeweils dafür zuständigen Spezialisten oder Spitalambulatorien zu. (Allfällige Spekulationen über Kostenfolgen möchte ich Ihnen überlassen.)
– Man setzt den Patienten nach 20 min Konsultation ins Wartezimmer, behandelt den nächsten Patienten und holt dann wieder Patient Nr. 1 zur weiteren Behandlung/
Beratung. So könnten gut pro Tag einige wenige polymorbide Patienten den ganzen Arbeitstag ausfüllen.
– Ob so die gleiche hohe Qualität wie bisher geleistet und gewährleistet werden kann, ist ungewiss.
«Arbeit in Abwesenheit des Patienten», die Vielgescholtene …
Im Zeitalter der Zalando-Mentalität erwarten und verlangen viele Patienten eine aufwands- und kostenfreie «Fernwartung» mit Auftragserteilung oder Anfragen per E-Mail oder Telefo­n, ohne dass dafür eine ärztliche Kon­sul­tation für nötig erachtet würde («I zahle schliesslich scho gnueg Prämie!»). Die medizinische und (auch juristische!) Verantwortung für sein/ihr Handeln obliegt jedoch in guter alter, analoger Manier dem Arzt / der Ärztin.
Wohlverstanden: in «Abwesenheit des Patienten». Die gesamte digitale Betreuung für das Anliegen des abwesenden Patienten darf jedoch 30 min pro Quartal nicht überschreiten.
Als Notlösung werden möglicherweise Versicherungszeugnisse dann nicht mehr bearbeitet werden können oder zumindest auf das nächste Quartal verschoben werden müssen. Es ist übrigens bedauerlich, dass für Versicherungsanfragen keine eigene Tarifposition «in Abwesenheit des Patienten» vorgesehen ist.
Zusammenfassend kann also gesagt werden:
1. Gute hausärztliche Arbeit braucht Zeit.
2. Unter den oben skizzierten Prämissen kann die Grundversorgung ab dem 1.1.2018 vermutlich nicht mehr in qualitativer Äquivalenz aufrechterhalten werden.
3. Die zeitlichen Limitierungen könnten der ambulanten Hausarztmedizin das Genick brechen. Eigentlich ein Widerspruch zur bundesrätlichen Strategie Gesundheit2020: «Ambulant vor stationär»!
4. Die Massnahmen werden vor allem die ­alten, chronisch und/oder psychisch Kranken und die polymorbiden Patienten treffen. Oder ist dies gerade das erklärte Ziel? Und dann? «Wohin damit?»
5. Man könnte ja auch den Bäckern das Mehl rationieren, Sägemehl tut’s auch. Aber erwarten Sie bitte nicht, dass das Brot nachher noch gleich schmeckt.
Sehr verehrter Herr Bundesrat Berset, wenn Sie uns unseres wichtigsten Instrumentes ­berauben, könnte das teure und nachhaltige Folgen für die Gesundheitskosten und die Bevölkerung haben. Wenn Sie nicht als Branchenkiller der Grundversorgung in die Geschichte eingehen wollen, bitte ich Sie, die oben angesprochenen Aspekte ihres Tarifeingriffes, die vor allem uns Hausärzte und Grundversorger fundamental treffen werden, noch einmal zu überdenken.
Ich danke Ihnen für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit und verbleibe hochachtungsvoll
P.S.: Falls ich Ihr Interesse an der hausärztlichen Arbeit geweckt haben sollte, lade ich Sie herzlich ein, an einem Tag Ihrer Wahl in meiner Praxis zu hospitieren.
P.P.S.: Ich werde diese «Arbeit in Abwesenheit» im Namen aller hausärztlichen Patienten niemandem in Rechnung stellen.