Zwei Geschichten, ein verbindendes Element: das Schreiben

Horizonte
Ausgabe
2017/3031
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05804
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(3031):977–978

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 26.07.2017

Robert Vieli

Der Schreibtischtäter

Chur: Graubücher Verlag; 2017.
282 Seiten. 26.90 CHF.
ISBN 978-3-952-46371-0
Der neuste Kriminalroman von Robert Vieli, früher ­Familienarzt in Chur, bietet durchgehende Spannung und gleichsam, als corpus delicti, eine gehörige Portion Bündner Tourismusgeschichte. Der aus vorangegangenen Ermittlungen vbekannte Kommissar Fürbass lehnt sich am Ende trotz einer gemischten Bilanz zufrieden zurück. Auf der Positivliste stehen ein aufgeklärter Mord und ein entzogenes Anwaltspatent. Negativ zu verbuchen sind ein zweiter, ungeklärter Mord, der Wegzug eines bedeutenden Steuerzahlers und die ungelösten Strukturprobleme eines Gebirgskantons. Wie immer bei Robert Vieli ist das alles kunstvoll erzählt und logisch aufgebaut, gepfeffert mit überraschenden Wendungen und einer Prise sarkastischem Humor. Ob die heftige Kritik eines Schreibtischtäters an der Tourismus-Monokultur, als einer gigantischen Kapital­vernichtungsmaschine, derart heftige Gegenreaktionen auslösen würde bleibe dahingestellt. Was die schonungslose Analyse in der Öffentlichkeit auslöst, führt im Roman, wie in einer antiken Tragödie, zu ­ihrem schlimmstmöglichen Ausgang. Die Krise trifft Graubünden besonders hart. Leere Betten, geschlossene Hotelbetriebe, unrentable Infrastrukturen und ausbleibende Gäste sind eine Tatsache. Ob da ein Theaterturm auf dem Julier, ein Turm auf der Schatzalp oder noch höher hinaus in Vals weiterhelfen ist fraglich. Die Alpenkonvention gerät zur Farce, wenn Seilbrücken und Aussichtskanzeln die Gebirgslandschaft in einen Disneypark verwandeln. Die Signale sind widersprüchlich. Zum zweiten Mal haben die Stimmbürger das ­Projekt einer Olympiade abgeschmettert, einen Naturpark leider auch. Vor diesem Hintergrund reflektiert der Krimi von Robert Vieli den Zustand einer ganzen Region. Eine gut recherchierte Reportage aus seiner bedrohten Heimat.
André Blum

Halt auf offener Strecke

Würzburg: Königshausen & Neumann; 2016.
192 Seiten. 35.90 CHF.
ISBN 978-3-826-06072-4
Eine Romeo-und-Julia-Geschichte, die selbst Shake­speare inspiriert haben könnte. Beklemmendes aus dem Stasiland, das André L. Blum, Gastroenterologe in Lausanne, aus eigener Erfahrung kennen lernte. Er habe sich mehr als 30 Jahre später seinen damaligen Zorn von der Seele geschrieben. Daraus ist eine rührende, tragische Geschichte entstanden, ein Roman in Form der Tagebucheinträge, die sich der Wissenschaftsjournalist und die Oberärztin aus der DDR für zwei Wochen vorgenommen haben. Am Ende wollen sie die Bücher austauschen und sich entscheiden, für einander oder für getrennte Wege. Vera und David, geprägt von vielen gescheiterten Beziehungen, verlieben sich auf den ersten Blick. Sie ist in der Schweiz um mit einem pharmazeutischen Unternehmen einen Vertrag auszuhandeln, denn in der devisenhungrigen DDR sind klinische Versuche ohne lästige ethische Auflagen möglich. David bekommt die ersehnte Sonderbewilligung für die Reise an einen Internistenkongress in Leipzig, wo er vor allem seine Vera wieder treffen will. Alles klappt und alles geht schief, in einem Umfeld von Bespitzelung, Misstrauen und Verrat. André Blum hat es meisterhaft verstanden, die Nachtseiten ­eines bevormundeten, unter ständigem Mangel leidenden Gesundheitssystems atmosphärisch dicht darzustellen. Lügen, Zynismus und Erpressung halten ein System am Laufen, dem sich auch die Liebenden nicht entziehen können. Eine gelungene literarische Form für eine packende Erzählung über ein Labyrinth, in dem sich auch die Leser und Leserinnen zunehmend angstvoll verlieren. Gemäss Epilog ist der Autor im Besitz der Tagebücher und von über zweihundert Stasidokumenten. Am Ende steht ein Freikaufspreis, den die Basler Pharmafirma vorgestreckt hat. Eine Liebesgeschichte mit einem unerwarteten Ausgang, die nebenbei an die skandalösen klinischen Medikamentenversuche und die räuberische Lösegeldpraxis von damals erinnert.
erhard.taverna[at]saez.ch