Verständnis für die Versicherungsmediziner

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2017/32
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05893
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(32):994

Publiziert am 09.08.2017

Verständnis für die Versicherungs­mediziner

Brief zu Mast H., Schneuwly F. Mehr Verständnis für die eidgenössische Versicherungsmedizin. Schweiz Ärztezeitung 2017;98(28–29):918–21.
Ob Prof. Mast mit seinem «Habt uns doch bitte auch lieb»-Artikel mehr zum Verständnis beigetragen hat, wage ich zu bezweifeln. Der Unterschied zwischen einem Gutachter für die IV und einem Behandler ist nicht die Frage ob er pro bono arbeitet, sondern die Arbeit muss sich rentieren. Die Rechung ist ganz einfach. Für eine Patientenstunde kann ich rund 180 Franken abrechnen, für ein monodisziplinäres IV-GA bietet die IV rund 3200 Franken. D.h. ich muss es in 17,7 Stunden fertig haben damit es sich «lohnt» (nicht zu reden von den Stundenansätzen in der Forensik). Der Effekt ist, dass Aktenauszüge von der ­Sekretärin oder per unkritischem Copy-and-paste gemacht werden und die Untersuchung im psychiatrischen Teil kaum mehr als eine Stunde dauert, damit es sich «rentiert». Im sozialrechtlichen Gutachterwesen zeigt sich exemplarisch, was Gesundheits«ökonomie» bedeutet. Wer also gewissenhaft und umfassend begutachten möchte, zahlt nicht selten drauf. Unabhängig kann nur bleiben, wer verschiedene Auftraggeber hat, inkl. Patient.
Die Frage stellt sich, ob es für die Sachbearbeiter und den RAD unangenehmer ist, in einem gewissen Prozentsatz Klagen der Behandler und Anwälte zu bearbeiten oder die Rückfragen des eigenen Rechtsdienstes und des BSV.
Der ethisch-moralische Aspekt besteht aus meiner Sicht in der Begegnung mit dem Versicherten, der in der Regel schon sehr lange aus einem Arbeitsprozess herausgefallen ist. Leider kommt es nicht selten vor, dass aufgrund des beschriebenen Zeitdruckes die Menschen nicht angehört werden und auch nicht versucht wird zu verstehen, wie es zu dem Leiden gekommen ist und warum sie sich nicht mehr arbeitsfähig fühlen. Vielleicht sind sie arbeitsfähig. Sie haben aber sicher ein Recht genau und gewissenhaft untersucht zu werden, mit möglichen Differentialdiagnosen und gegebenenfalls weiterführenden Abklärungen. Das wiederum braucht Zeit, aber vor allem Interesse an dem Gegenüber. Versuchen Sie einmal eine Arbeitsfähigkeit ohne ICD-10 Diagnose zu begründen. Ob das wirklich sekundär ist? Alle, die zum Gutachten kommen, haben bereits vorgängig Dignosen von ihren Behandlern bekommen (müssen) – was das mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu tun hat, bleibt mir ein Rätsel. Dass diese Diagnosen kritisch gewürdigt und diskutiert werden müssen, ist klar. Wenn aber ein Gutachten zum Schluss kommt, die Person leidet unter keiner Diagnose, ist es doch eine Frage der Zeit bis eine Krankenkasse die weiteren Leistungen verweigert.
Dass eine Gutachter nicht behandeln sollte, ist Basiswissen. Der Explorand ist aber in keiner Eignungsprüfung für was auch immer, sondern in einer gewissenhaften ärztlichen Untersuchung. Dafür haben wir den gefragten Sachverstand. Eignungsprüfungen können sonst auch Sachbeabeiter machen oder die Akten können auch Sekretärinnen «sachverständig» lesen. Anders als im forensischen Kontext sitzen uns hier Menschen gegenüber, die auch Patienten sind. Im Strafverfahren haben viele keine Diagnose.
Es ist richtig, dass jeder erfahrene Kliniker mit versicherungsmedizinischem Basiswissen auch ein guter Gutachter sein kann. Der Umkehrschluss stimmt aber aus meiner Sicht nicht, weil es doch eine Reihe von Gutachtern gibt, die nicht mehr oder nur sehr wenig im Alltag mit Patienten im Kontakt sind und damit das Gespür für diese Menschen verlieren.
Als Gutachter ist man nicht Anwalt einer Seite. Als Arzt sollte man sich aber seiner ethische Verantwortung bewusst sein. Es ist doch traurig, dass Juristen, nicht Ärzte, als Patientenanwälte die Päusbonog gekippt haben.