Gedanken zu den IV-Renten

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2017/33
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05907
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(33):1030–1031

Publiziert am 16.08.2017

Gedanken zu den IV-Renten

Brief zu
Brülmeier-Rosenthal D. Soziales Elend nach Stopp oder Verweigerung von IV-Renten. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(24):785–7.
Jeger C. Rund um das ISG. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(25):813.
Mast H., Schneuwly F. Mehr Verständnis für die eidgenössische Versicherungsmedizin. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98 (28–9):918–21.
Schürch F. Die harte Realität hinter den Kulissen. Schweiz Ärztezeitung. 2017; 98(28–9):901.
Die von Kollegin Brühlmeier angeregte Diskussion um die IV-Renten ist von hoher ­Aktualität und hat mich zu verschiedenen Überlegungen veranlasst. Als alter Allgemeinpraktiker mit Zusatzausbildung in Manualmedizin kann/muss ich die Bemerkungen des Kollegen Jeger voll unterstützen.
In den letzten anderthalb Jahren war ich in ­einem der diskutierten Gutachtenzentren tätig und kann bestätigen, dass von den 250 in diesem Zeitraum verfassten Gutachten 10% ein ISG-Problem aufwiesen. Wie Kollege Jeger richtig bemerkt, ist diese Diagnose eine klinische, aber morphologisch oder radiologisch nicht nachweisbare, wie dies Kollege Mast (und die Versicherer IV, SUVA et al.) postulieren. ­Zudem ist das Problem häufig erfolgreich behandelbar [1], womit sich oft unnötige und ­destabilisierende Interventionen vermeiden lassen. Ein blockiertes ISG kann Auslöser von intensiven, therapieresistenten Schmerzen sein, die eine entsprechende körperlich fordernde berufliche Tätigkeit sehr bis ganz limitieren können. Diese Schmerzen sind häufig sekundär reaktive Muskelverspannungen paravertebral und gluteal, wie dies Travell/Simons publiziert haben [2].
Damit kommen wir zum nächsten Problem, nämlich den chronischen Schmerzzuständen, mit oder ohne Depression. Das Bundesgericht hat in seinem wegweisenden Urteil BGE 141 V 281 vom 3.6.2015 der unbefriedigenden Situation um die Überwindbarkeit von chronischen Schmerzen ein Ende zu setzen versucht. Die Gutachter wurden beauftragt, die Situation eines so betroffenen Patienten neu glo-bal nach Indikatoren zu beurteilen, d.h. die Auswirkungen der gesundheitlichen Störung über den professionnellen Rahmen hinaus auch auf die privaten und allgemeinen Akti­vitäten zu evaluieren (für die Psychiater z.B. mittels den 13 ICF-Items von Linden und Baron).
Eine erste Bilanz dieser neuen Betrachtungsweise ist kürzlich am 18. Zentrumstag der Uni Luzern («Das indikatorenorientierte Abklärungsverfahren») diskutiert worden. Diese ­Bilanz ist leider ernüchternd, denn an Stelle der Überwindbarkeitsklausel ist jetzt der notwendige Nachweis einer mindestens einjäh­rigen Therapieerfolglosigkeit erforderlich, um im Falle einer mittelschweren Depression die Möglichkeit zu haben, eine Teilarbeitsunfähigkeit dekretiert zu bekommen [3].
Wenn Sie das Pech haben, in dieser Zeit 1–2 Mal ins Kino gegangen zu sein, wird Ihr sozialer Indikator als normal taxiert, womit die Behinderung als nicht mehr genügend erachtet wird. Kollege Schürch hat in seinem Leserbrief richtigerweise Prof. Hell zitiert und ­Kollegin Brühlmeier hat in ihrem Artikel nachdrücklich dokumentiert, wie sich die Schicksale solcher Patienten entwickeln können. Das Abschieben in die aus Steuergeldern finanzierte Sozialhilfe ist entwürdigend, de­pres­sionsfördernd, desozialisierend und damit kontraproduktiv, und zudem keineswegs kostensparend, im Gegenteil, aber dies erscheint dann nicht mehr in der IV-Buchhaltung.
Die vor einigen Jahren von der IV eingeführte Früherfassung mit dem Ziel einer möglichst raschen Reintegration ist ein durchaus positiver Ansatz, der auch zu einer Abnahme der gesprochenen Renten geführt hat. Idealerweise könnten aber solche Reintegrationsmassnahmen mit einer (u.U. befristeten) Teilrente unterstützt werden. Dies hätte mehrere positive Auswirkungen: a) eine «offizielle» Wahrnehmung einer gesundheitlichen Störung und damit eine respektvolle Würdigung der betroffenen Person, was für das Selbstwertgefühl, und damit die Motivation, wichtig ist; 
b) eine finanzielle Teilstabilisierung oder Absicherung, welche z.B. die Wohnungssuche erst ermöglicht, anstatt auf Sozialhilfekosten in einem Hotelzimmer untergebracht zu werden; c) damit einen Anreiz, selber eine Rest­arbeit zu suchen.
Im Anschluss an das BGE 141 V 281 wurde in Kommentaren die Möglichkeit von fliessend graduierten IV-Renten diskutiert, wie dies im UVG seit langem erfolgreich praktiziert wird. Die gegenwärtig in die Wege geleiteten Bemühungen des BSV um Regulierung, Standar­disierung und Steigerung der Qualität der Gutachten, deren Auftrag nach wie vor die ­Dokumentierung der noch erhaltenen Funktionen ist, sind ein Schritt in die gute Richtung, der die Attraktivität des 81-Mio.-Gutachten-Marktes auf dem Buckel der leidenden Patienten entschärfen könnte. Die reiche Schweiz darf es sich leisten, seine schwächsten Mitbürger würdevoll zu behandeln.