Die De-Extinktion als neue ethische Herausforderung der Biotechnologie!

Wiederbelebung 
verschwundener Arten?

Zu guter Letzt
Ausgabe
2017/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05920
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(35):1126

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 30.08.2017

Das Potenzial, das unser wissenschaftlicher Fortschritt – vor allem auch in der Genetik – birgt, ist Nährboden für eine Vielzahl neuer Ideen und Fantasien, beispielsweise im Bereich des Transhumanismus. In diesem Kontext widmet sich eine Beilage des Hastings Center Report [1] der Natur bzw. der Schöpfung in ihrer jetzigen und auch ihrer früheren Form, d.h. es geht um die Frage, ob der Versuch unternommen werden soll, ausgestorbene Arten wiederzubeleben.
Viele zeigen sich besorgt ob der Daten, die darauf ­hinweisen, dass die Biodiversität rapide abnimmt. Die Wissenschaft spricht von 150 Arten, die täglich verschwinden (darunter – so die Forscher – auch solche, die aussterben, bevor sie überhaupt identifiziert und kata­logisiert werden konnten). Im Laufe der Evolution gab es zwar immer wieder Arten, die neu auftauchten und solche, die ausstarben, doch es wäre zumindest wünschenswert, dass dieser Verkümmerung der Artenvielfalt Einhalt ­geboten wird. Anmerkung: Hier gibt es einen Bezug zum Begriff Anthropozän (er steht für die deutlichen und schnellen Auswirkungen der Technologie auf das ­natürliche, biochemische und atmosphärische Gleich­gewicht unseres Planeten, Auswirkungen, die früher hunderte Millionen von Jahren benötigten). Zu den strukturellen Veränderungen zählen die Genom-Editierung, die «inszenierte Folgen für die biolo­gische Evolution zeitigt» und das Clonen.
Zu den potenziellen Möglichkeiten zählt die (an sich sympathische) Vorstellung, ausgestorbene prähistorische Arten, aber auch Spezies der jüngeren Vergangenheit (19. und 20. Jahrhundert) wiederzubeleben. Hier wären zu nennen: Auerochse, Wisent, grosser Pinguin, Dodo der Insel Mauritius, tasmanischer Tiger, etc [2].
In der genannten Publikation wird die Frage nach der Rolle der «Conservationists» [3] in dieser Debatte aufgeworfen. Geht ihre Unterstützung in Richtung einer «De-Extinction» oder – unter dem Blickwinkel einer Nicht-Intervention, wie dies heute der Fall ist – in Richtung einer reinen Opposition? Die Internationale Union zum Schutz der Natur (Gland, Waadt) gab 2016 diesbezüglich ein Grundsatzpapier (Richtlinien) heraus. Darin bezieht sie keine Stellung für oder gegen solche ­Unternehmungen, aber sie formuliert Richtlinien als Entscheidungshilfe.
Interessant ist hier die Frage, nach welchen Kriterien die Auswahl jener Arten zu treffen wäre, die «es verdienen», vor dem Aussterben bewahrt zu werden. Man wird wünschen, schädlich eingeschätzte Spezies wiederzubeleben. Wer aber entscheidet darüber und nach welchen Kriterien? Sollen bestimmte Arten verändert werden, um sie nützlich zu machen (für wen?)? Sollen sie dann in ihrem – oder in ­einem anderen – Ökosystem neu positioniert werden? Wer weiss, ob sie dort dann ihren Platz (wieder)finden?
Für «alte Kinder» wie mich, die gerne prähistorische Geschichten gelesen haben, liesse sich da an das Mammut denken [4] oder an den Auerochsen (für den es ja – ausgehend vom Rind – bereits «backbreeding»-Versuche gibt). Oder – dichter an uns – eine Unterart des iberischen Steinbocks, der – so dachte man – bereits seit Jahrhunderten verschwunden war und von dem im 20. Jahrhundert in einem abgelegenen Tal inzwischen wieder einige Exemplare gesichtet worden waren. Allerdings wurde das Tier seit dem Jahr 2000 nicht mehr gesehen.
Heftige ethische Diskussionen sind abzusehen! Heute steht häufig die Frage im Raum, ob der Mensch als Schöpfer oder als Geschöpf agiert – oder beides? Es braucht eine Debatte über unser Verständnis von der Natur, die nach Meinung bestimmter Gruppen unveränderlich ist. Dies ist aber ganz offenkundig nicht der Fall (die Auf­fassung ist heute vertreten, dass die «Natur nicht mehr im Original existiert»!). Es geht um den Platz, die Würde der lebenden, nicht humanen Spezies. Es geht darum, welche Manipulationen aus «wissenschaftlicher» Hybris vorgenommen werden oder aus dem legitimen Wunsch heraus, die Biodiversität stabil zu halten oder neu zu schaffen. Und hier stellt sich wie immer die Frage nach den Prioritäten!
Dabei habe ich das Thema der notwendigen Finan­zierung noch gar nicht angeschnitten. Wie viel Finanzmittel sind aufzuwenden, um tierische, pflanzliche oder menschliche Arten «wiederzubeleben» … (verschwundene Eingeborenenstämme in der Neuen Welt?), anstatt Mittel und Wege zu suchen, die Probleme von Gewalt und Krieg, Hunger und Entfremdung jener zu lindern, die hier und heute leben. «Brave New World» – jeden Tag mehr …!
jean.martin[at]saez.ch