Über die Schokoladenwaage

Zu guter Letzt
Ausgabe
2017/36
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05940
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(36):1170

Affiliations
PD Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft

Publiziert am 06.09.2017

In meinem Lieblings-Hallenbad stehen gleich zwei ­öffentliche Personenwaagen, mit denen man nach ­Einwurf einer Münze sein Gewicht erfahren kann. Eine ältere, geschwungene, mit analog-mechanischem Zeiger. Und eine jüngere, eckige, mit dem heute auch schon archaisch anmutenden Leuchtdioden-Display des letzten Jahrhunderts. Ich habe noch nie beobachtet, dass sich jemand auf ihnen wiegt. Gewogen wird heute zu Hause.
Solche öffentlichen Waagen breiteten sich seit dem Industriezeitalter auf Bahnhöfen, Jahrmärkten und in Apotheken aus. Tabellen an den Waagen sollten helfen, das «richtige» Körpergewicht zu finden. Und «richtig» bedeutete vor allem auch «gesund». Die langen Arme der Medizin griffen in den Alltag ein, auf Bahnhöfen und Jahrmärkten.
Es war die Zeit, als die Menschen und ihre Körper immer häufiger gemessen und getestet wurden. Das Fieber­thermometer hatte einen Anfang gemacht. Das öffentliche Wiegen war bald so verbreitet, dass es die Times zum Beispiel 1956 einen «alten englischen Brauch» nannte [1]. An die öffentlichen Waagen auf ­vielen Schweizer Bahnhöfen, die das Messergebnis auf einem Kartonbillett auswarfen, hat Enrico Danieli schon 2004 in diesem Blatt erinnert [2].
Die britische Waagenfirma Salter brachte in den 1930ern eine öffentliche Waage auf den Markt (Bild), die mit dem Gewicht nicht etwa eine Ermahnung zur gesunden Lebensführung auswarf, sondern eine ganze Tafel Nestlé-Milchschokolade aus britischer Produktion! Was uns heute wie ein Aprilscherz vorkommt, war damals alles andere als absurd. Man wog nicht, wie heute so oft, vornehmlich in der Furcht, zu viel zu ­wiegen. Diese Angst breitete sich in den Köpfen zwar schon seit der Zeit aus, in der es öffentliche Waagen gab. Die Schokoladenwaage konnte nur funktionieren, weil sich die Leute damals oft auch einfach aus Spass wogen. Oder aus Neugier, etwas über den eigenen Körper wissen zu wollen. Und einige auch, weil sie gerne mehr wiegen wollten.
Und selbst wenn sie das Idealgewicht im Auge hatten: Sie taten (und tun) dies bekanntlich oft nicht nur, um gesund zu sein, sondern auch, um in ihren Augen schön auszusehen. Auch das Schönheitsideal wandelte sich zu der Zeit, in der auch die öffentlichen Waagen aufkamen, dramatisch in Richtung «schlank».
Das Wiegen erstreckt(e) sich über viele Felder. Nur ein Teil davon war und ist gesundheitlich eingefärbt.
Ich wurde als Baby auf einer ganz speziellen Waage gewogen, und viele Schweizerinnen und Schweizer nicht mehr ganz jungen Alters ebenfalls: Sie hatte einen flachen, an den Seiten hochgebogenen Aufsatz. Der war da, um den Nachwuchs zu wiegen. Ein anderer, schüsselförmiger Aufsatz machte eine Küchenwaage daraus, um das Mehl für den Sonntagskuchen abzuwiegen.
Eine Küchenwaage mit Babyfunktion? Oder eine Babywaage mit Küchenfunktion? Beides. In diesem Sinne ist unsere Schokoladenwaage weder ein menschenwiegender Schokoladenautomat noch eine schokoladenauswerfende Personenwaage, sondern beides.
Ob Schokoladenwaage oder Babyküchenwaage, es sind für mich schöne Beispiele, dass der Medizinbereich nichts Abgeschlossenes ist. Medizin beginnt nicht schlagartig, wenn wir die Arztpraxis oder das Spital ­betreten, und der aussermedizinische Rest endet dann auch nicht. Selbst im Jahrmarkt steckt etwas Medizin, wenn dort der Körper gewogen wird. Und in der Medizin steckt immer etwas «Jahrmarkt». Etwas seriöser formuliert: Die Medizin und ihre Logik fliessen an vielen Stellen mit anderen Bereichen des Alltagslebens zusammen, die einer anderen Logik folgen. Die Schokoladenwaage kommt uns auf den ersten Blick skurril vor. Aber eigentlich ist sie das Normale.
eberhard.wolff[at]saez.ch
1 Bivins R, Marland H. Weighting for Health. Management, ­Measurement and Self-surveillance in the Modern Household. Social History of Medicine 2016;29:757–80.
2 Danieli E. Vom Messen und Wiegen. Schweiz Ärztezeitung 2004;85:2272–3.