Pilotprogramm «progress! Sichere Medikation an Schnittstellen»: Ein Rück- und Ausblick

Der systematische Medikationsabgleich in Schweizer Akutspitälern

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2017/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05957
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(44):1451–1453

Affiliations
a M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Patientensicherheit Schweiz; b Dr. med., Programmleitung progress! Sichere Medikation an Schnittstellen, Patientensicherheit Schweiz

Publiziert am 31.10.2017

In der Ausgabe 23 vom letzten Jahr stellten wir das nationale Pilotprogramm «progress! Sichere Medikation an Schnittstellen» vor. Das Programm wurde 2014–2017 von Patientensicherheit Schweiz durchgeführt und mass­geblich vom Bundesamt für Gesundheit finanziert. Acht Pilotspitäler aus der gesamten Schweiz haben an einem zweijährigen Vertiefungsprojekt teilgenommen und auf internistischen Abteilungen den systematischen Medikationsabgleich (Medication Reconciliation) bei Spitaleintritt eingeführt. Der Schwerpunkt lag dabei auf dem Erstellen einer vollständigen und aktuellen prästationären Medikationsliste anhand einer bestmöglichen Medikationsanamnese. Patientensicherheit Schweiz hat den Pilotspitälern bestimmte Prozess- und Dokumentationsanforderungen vorgegeben. Die Pilotspitäler konnten ihrerseits die Rollen und Verantwortlichkeiten im Prozess den lokalen Strukturen entsprechend definieren. Wir fassen hier wesentliche Erkenntnisse des Vertiefungsprojekts zusammen.

Erhebung und Dokumentation der ­prästationären Medikation

Das Vertiefungsprojekt gab die Erhebung der prästationären Medikationsliste anhand von mindestens zwei Informationsquellen vor, wovon idealerweise eine die strukturierte Patientenbefragung war. Dafür wurde die Verwendung eines Befragungsleitfadens als nützlich erlebt, um Medikamente zu erfragen, die typischerweise vergessen gehen (z.B. Tropfen und Inhalatoren). Das Auftreiben von weiteren Informationsquellen erwies sich als aufwendig. Ein verstärkter Einbezug der externen Leistungserbringer sowie der Patienten und der Angehörigen erleichtert den Zugang zu Informationen. Bezüglich der Dokumentation zeigte sich, dass anwenderfreundliche elektronische Formulare wichtig sind, um die Dokumentationsqualität zu verbessern und Doppelspurigkeiten zu verhindern. Formulare, die nicht gut in die Arbeitsabläufe integriert waren, machten den Prozess aufwendiger und schufen neue Risiken für die Patientensicherheit (z.B. wenn das Formular ein zusätzliches Dokument darstellte, das nicht weiter verwendet wurde). Die Erfahrungen im Projekt zeigen, dass für gut entwickelte und integrierte Formulare in ausreichendem Masse IT-Ressourcen von Beginn an zur Verfügung gestellt werden müssen.

Rollenmodelle

Die Pilotspitäler wählten unterschiedliche Rollenmodelle. Die Hälfte beliess die Zuständigkeit der Medikationsanamnese bei der Ärzteschaft, während die anderen alternative Modelle erprobten, hauptsächlich unter Einbezug von pharmazeutischem Personal. Jedes Rollenmodell hatte Vor- und Nachteile. Es lässt sich keine einheitliche Empfehlung aus den Erfahrungen ableiten. Übernimmt nicht-ärztliches Personal Aufgaben bei der bestmöglichen Medikationsanamnese, ist zu bedenken, dass dadurch der Prozess fragmentiert und die Komplexität erhöht wird. Gleichzeitig stärkt der Einbezug der Pharmazie die interprofessionelle Zusammenarbeit mit der Ärzteschaft. Unabhängig vom Modell wurde in allen Spitälern deutlich, dass die strukturierten Patienten­gespräche und der genaue Abgleich mehrerer Informationsquellen Zeit braucht. Eine vollständige strukturierte Patientenbefragung dauert im Durchschnitt um die 15 Minuten, während der gesamte Prozess des Medikationsabgleichs bei Eintritt bis zu 60 Minuten braucht, wobei ein Teil dieser Zeit an anderer Stelle durch Effizienzgewinne wieder eingeholt wird. Für eine wirksame Umsetzung müssen sich die beteiligten Fach­personen explizit Zeit nehmen können, was entsprechende zeitliche und per­sonelle Ressourcen braucht.

Medikationssicherheit

Aufgrund des gewählten Designs als Umsetzungsprojekt konnten im Rahmen von «progress!» die Auswirkungen des systematischen Medikationsabgleichs auf die Medikationssicherheit nicht quantitativ überprüft werden. Einige Pilotspitäler haben eigene Auswertungen durchgeführt [1–3]. Von Patientensicherheit Schweiz geführte Interviews mit Mitarbeitenden aus den Pilotspitälern zu ihrer subjektiven Einschätzung ergaben, dass zahlreiche Fehler und Diskrepanzen durch die bestmögliche Medikationsanamnese verhindert werden können, typischerweise Dosierungsfehler, Doppelverordnungen und Auslassungen (insbesondere von Augentropfen, Inhalatoren, Salben, Laxantien und Psychopharmaka). Gemäss den Aussagen von Pflegefachpersonen aus einigen Spitälern sind die ärztlichen Verordnungen deutlich klarer und vollständiger geworden.

Weitere Verbreitung des systematischen Medikationsabgleichs in der Schweiz

Mit der Teilnahme am Projekt konnten die Pilotspitäler wichtige Grundlagen für die Verbesserung ihrer Medikationsprozesse schaffen. Seit Projektende verfolgen sie den Medikationsabgleich in unterschiedlicher Intensität und Stossrichtung weiter, beispielsweise die Weiterentwicklung der elektronischen Patientenakte mit entsprechenden Funktionalitäten. Da sich diverse Herausforderungen struktureller Art zeigten, ist es für die weitere Verbreitung des systematischen Medikationsabgleichs in der Schweiz wichtig, die Sensibilisierung und den interprofessionellen Austausch weiter zu fördern. Deshalb hat Patientensicherheit Schweiz am 1. Juni 2017 eine nationale Tagung organisiert, an der rund 160 Fachpersonen aus Pharmazie, Pflege, Ärzteschaft und Qualitätsmanagement teilnahmen. Zudem haben wir eine virtuelle Toolbox in drei Sprachen ­(D, F,  I) für die Implementierung des systematischen Medikations­abgleichs veröffentlicht. Diese enthält ­Unterstützungsmaterialien für die praktische Ein­führung und Umsetzung. Um den systematischen Medikationsabgleich in Schweizer Spitälern als Standard in der Gesundheitsversorgung zu etablieren, ist aber vor allem auch von Seiten der Verantwortlichen aus den Gesundheitsinstitutionen, Verbänden und Poli­tik ein klares Bekenntnis notwendig. Aus diesem Grund hat Patientensicherheit Schweiz am 31. Oktober 2017 die Stakeholder-Erklärung «Sichere Medikation an Schnittstellen» lanciert (siehe Seite 1453). Die Inhalte der Erklärung basieren auf internationalen Pu­blikationen und auf den Erkenntnissen des pro­gress!-Programms. Die Erklärung richtet sich an Personen, Gremien und Orga­nisationen, die eine Führungs-, Ausbildungs- oder Weiterbildungsfunktion innerhalb des Gesundheitswesens inne­haben. Patientensicherheit Schweiz lädt Gesundheitsinstitutionen, Verbände, Fachgesellschaften sowie Fachpersonen in der Schweiz aber auch aus dem Ausland ein, sich der Charta anzuschliessen. Mit ihrer Unterschrift demonstrieren sie, dass sie die Forderungen unterstützen und sich aktiv für die Medikationssicherheit einsetzen. Auch die FMH ist Mitunterzeichnerin der Erklärung.

Hinweis

Die Toolbox zum systematischen Medikationsabgleich, die Stakeholder-Erklärung, die Vorträge der Tagung vom 1. Juni sowie eine Zusammenfassung des Schlussberichts des Programms können auf www.patientensicherheit.ch heruntergeladen werden.

Erklärung Sichere Medikation an Schnittstellen

Verbesserung der Medikationssicherheit durch den systematischen Medikationsabgleich in Spitälern
Patientensicherheit Schweiz und die unterzeichnenden Organisationen und Personen unterstützen folgende Forderungen:
An Behandlungs-Schnittstellen besteht ein erhöhtes Risiko für Medikationsdiskrepanzen, die durch einen systematischen Medika­tionsabgleich (Medication Reconciliation) verhindert werden können. Bei allen stationären Spitalpatienten muss es ein strukturiertes Vorgehen für die Erfassung der bei Eintritt bestehenden Medikation sowie für den konsequenten Abgleich der Angaben von Spital­eintritt bis -austritt geben. Dafür sind folgende Rahmenbedingungen zu erfüllen:
a) Klares Commitment der Führung
– Die Spitalleitung und Führungspersonen der beteiligten Berufsgruppen – Ärzte, Pflegefachpersonen und Spitalapotheker – unterstützen und überprüfen Medication Reconciliation aktiv.
– Es müssen genug Ressourcen zur Verfügung stehen, damit sich die Fachpersonen für die Aufgaben Zeit nehmen können.
b) Interprofessionalität und Zusammenarbeit aller Akteure
– Interprofessionelle Zusammenarbeit ist ein integraler Bestandteil des systematischen Medikationsabgleichs. Um die definierten Aufgaben und Verantwortungen wahrzunehmen, ist eine konsequente Schulung aller Prozessbeteiligten unerlässlich.
– Die Ausgestaltung der Prozesse obliegt den Spitälern. Das anamnestische Gespräch ist eine Grundqualifikation von Ärztinnen und Ärzten. Je nach Patientengruppe kann eine Erhebung der Medikamente durch andere Fachpersonen von Vorteil sein. Generell wird der Einbezug der Spitalapotheke bzw. klinischen Pharmazie beim systematischen Medikationsabgleich empfohlen.
– Medikationssicherheit bei Spitaleintritt und -austritt kann nicht allein durch Spitäler gewährleistet werden. Insbesondere die Grundversorger, aber auch Offizin-Apotheken, Spitex, freiberufliche Pflegefachpersonen sowie Alters- und Pflegeinstitutionen sind wichtige Partner. Alle Akteure müssen einen geregelten Informationsfluss sicherstellen.
– Patientinnen und Patienten oder ihre Angehörigen können einen wesentlichen Beitrag bei der Medikationssicherheit leisten. Sie sollen die Medikamente und einen aktuellen Medikamentenplan ins Spital mitbringen. Sie sollen ermutigt werden, Schwierigkeiten sowie Unklarheiten bei der medikamentösen Therapie anzusprechen.
c) IT-Strukturen
– Nur mittels adäquater Informationstechnologie (IT) können die Dokumentationsqualität verbessert und Doppelspurigkeiten verhindert werden.
– Die konsequente Nutzung des Elektronischen Patientendossiers (EPD) soll gefördert werden. Die IT-Anbieter sind aufgerufen, Schnittstellen zwischen EPD und Primärsystemen der Leistungserbringer interoperabel zu gestalten.
d) Sicherheitskultur und Forschung
– Als Bestandteil eines sicheren Medikationsmanagements muss der systematische Medikationsabgleich durch weitere Massnahmen zur Förderung der Patientensicherheit ergänzt werden.
– Die Thematik soll verstärkt in die Ausbildung der Studierenden von Medizin, Pharmazie und Pflege Eingang finden.
– Es braucht in der Schweiz mehr Erfahrungen bezüglich wirksamer Modelle. Erfahrungsaustausch und Forschungsprojekte sind zu fördern.

Hinweis

Die hier abgebildete Version der Erklärung ist gekürzt. Um den Originaltext einzusehen und die Erklärung zu unterzeichnen siehe: 
www.patientensicherheit.ch.
Stiftung Patienten­sicherheit Schweiz
Asylstrasse 77
CH-8032 Zürich
Tel. 043 244 14 80
fishman[at]patientensicherheit.ch
zimmermann[at]patientensicherheit.ch
1 Arzneimittelanamnese durch Pharma-Assistentinnen und pharmazeutisches Austrittsmanagement (Vortrag). Amsler N. Tagung «Sicheres Medikationsmanagement an den Übergängen der stationären Versorgung», Bern, 1. Juni 2017.
2 Messung des klinischen Impacts (Vortrag). Giannini O. Tagung «Sicheres Medikationsmanagement an den Übergängen der stationären Versorgung», Bern, 1. Juni 2017.
3 Trying hard to reconciliate the medication upon admission in a tertiary internal medicine department (Poster). Garnier A. et al. 2. SGAIM Frühjahrskongress, Lausanne, 3.–5. Mai 2017.