Translationale Medizin auf der schiefen Ebene

Ein Fall für eine Public-Private-Partnership-Strategie

Tribüne
Ausgabe
2017/43
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05971
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(43):1430–1433

Affiliations
Prof. Dr. em., emeritierter Professor der Universität Bern und CEO der sitem-insel AG

Publiziert am 25.10.2017

Was bedeutet «Translation»?

Résumé

Le transfert des découvertes de la recherche fondamentale vers le développement industriel de produits cliniques est dur à faire passer partout dans le monde. Parmi les principales raisons de ce défi figurent la complexité du processus de transfert, l’indispensable interaction entre des acteurs de différentes disciplines et l’exigence de l’infrastructure requise pour ce type de projets. Pour accélérer ce processus, les gouvernements de différents pays ont pris des initiatives innovantes, y compris en Suisse. Mais malgré cela, les obstacles restent élevés et le nombre d’études cliniques ne cesse de diminuer. Pour y remédier, une stratégie fondée sur un partenariat public-privé s’avère incontournable.
Der Begriff der Translation wird in der Biomedizin angewandt beim Übergang von Erkenntnissen der Grundlagenforschung und der industriellen Entwicklung in die klinische Anwendung. Konkret werden dabei medizintechnologische Erzeugnisse und neue Substanzen zum ersten Mal beim Menschen eingesetzt, um die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Produkte zu eruieren, mit dem Ziel, diese zu kommerzialisieren. Es handelt sich dabei um Verfahren und Produkte mit einem Nutzungspotenzial in der Dia­gnostik (z.B. radiologische Geräte, Endoskope oder genetische Tests) und Therapie (z.B. künstliche Gelenke, Insulinspritzen oder Medikamente).

Die Politik erkennt das Defizit

Um innovative Produkte im Medizinalbereich zu entwickeln, müssen offene Fragen durch analytisch denkende Kliniker identifiziert und mit neuen Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung und der industriellen Entwicklung in Beziehung gesetzt werden. Angesichts der historisch einmaligen Fülle von neuen Erkenntnissen erscheint heute deren spärliche Umsetzung in praktisch brauchbare Produkte für die Patienten als Paradoxon (Christopher Austin, Director of the National Center for Advancing Translational Sciences, NCATS, Washington). Vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse werden also verzögert oder überhaupt nicht in nützliche Produkte für Patienten um­gesetzt, was sowohl ethisch als auch wirtschaftlich problematisch ist. Um diesem Trend entgegenzuwirken, wurden in den industrialisierten westlichen Ländern, aber auch in China in den letzten Jahren Strategien zur Förderung der Translation entwickelt. So deklarierte zum Beispiel im Jahr 2010 die englische Regierung «Translational medicine, a topic high on the UK Government’s agenda»; 2011 wurde in Washington das NCATS gegründet; 2014 erfolgte in Frankreich die Planung einer Reihe klinischer Zentren zur Förderung der MedTech-Translation und 2016 wurde in «Science» rapportiert, «China is building a translational powerhouse», das staatlich finanziert wird.
In der Schweiz gibt es Fachrichtungen, wie die Krebsforschung, in denen seit Jahrzehnten kontinuierlich hervorragende translationale Leistungen in Zusammenarbeit mit der Industrie erbracht werden, während andere Gebiete weniger stark entwickelt worden sind. Zur Förderung der Translation – unabhängig vom Fachgebiet – wurden durch den Schweizerischen Nationalfonds für Wissenschaftliche Forschung (SNF) im Jahr 2007 die Clinical Trial Centers (CTC) und 2009 die Swiss Clinical Trial Organisation (SCTO) gegründet (Abbildung 1). Auch unterstützt die Kommission für Technologie und Innovation effizient Zusammenarbeitsprojekte zwischen Universität und Privatindus­trie. Insgesamt trifft jedoch die Konklusion einer Analyse der hiesigen Innovationsfinanzierung durch Hotz-Hart und Rohner auch auf die translationale Medizin zu: In der Schweiz hat die Privatwirtschaft die primäre Verantwortung für die Innovationsprozesse, der Staat kümmert sich um die Rahmenbedingungen. Entsprechend dieser Devise haben in Zürich und am Genfersee die beiden Sponsoren Ernesto Bertarelli und Hansjörg Wyss die Translation gefördert, und die Chefärzte von zwei Universitätsspitälern, der Balgristklinik in Zürich und dem Inselspital in Bern, haben den Aufbau von Zentren für translationale Medizin in Angriff genommen. Dabei werden sie in der Startphase durch die öffentliche Hand unterstützt, mittelfristig sind sie entsprechend der schweizerischen Innova­tionspolitik auf den Support der Industrie angewiesen.
Abbildung 1 : Quelle: Swissmedic, 2017; eigeneDarstellung.

Spannungsfelder in der Translation

Rekrutieren von Probanden und Patienten

Dem Schutz der Individuen, bei denen eine Innovation erstmals zur Anwendung kommt, wird in unserer Gesellschaft grosse Bedeutung beigemessen. Dieser Anspruch ist deontologisch korrekt und muss auch in Zukunft kategorisch gefordert werden. Trotzdem, auf gesunde Volontäre und Patienten kann nicht verzichtet werden, wenn neue diagnostisch-therapeutische Strategien evaluiert werden. Ihr Einsatz ist notwendig, um den Wert der Innovation für die Patienten zu belegen. Der effektive Nutzen von medizinischen Innovationen kann im Tierversuch nicht ermittelt werden. Der Translationsprozess ist also immer auf Menschen angewiesen, die bereit sind, Zeit aufzuwenden und ein Risiko einzugehen, d.h. einen acte gratuit im Interesse von anderen Menschen zu vollziehen. An dieser Bereitschaft mangelt es hierzulande in vielen Bereichen. Man erinnere sich zum Beispiel an die vom SNF mit mehreren Millionen Franken finanzierte SESAM-Studie, die wegen der Unmöglichkeit, schwangere Frauen zu rekrutieren, abgebrochen werden musste, oder an die Schwierigkeit, die Erlaubnis von Eltern zu erhalten, bei ihren Kindern aus wissenschaft­lichen Gründen zusätzliche Untersuchungen durchzuführen, oder an die mangelhafte Partizipation in Studien von Patienten der Privatkliniken. Soll in Zukunft Translation weiterhin in der Schweiz stattfinden, so ist vielleicht die ­Betonung der sozialen Komponente der Studienteilnahme relevant: Wir alle profitieren heute von medizinischen Errungenschaften, die letztlich nur dank dem Engagement von Menschen zu einem früheren Zeitpunkt überhaupt möglich geworden sind.

Regulatorische Imponderabilien

Zum Schutze der Patienten, aber auch der Urheber der Innovationen, der Investoren und der in die Translation einbezogenen Kliniken ist in der Schweiz ein klares Regelwerk für die erste Testung von neuen, innovativen Produkten entwickelt worden. Verschiedene, voneinander unabhängig arbeitende Institutionen mit differenter Unterstellung wenden diese Gesetze an. Wesentliche Institutionen sind regionale Ethikkommissionen, Swissmedic, Konformitätsbewertungsstellen für Medizinprodukte, Amt für geistiges Eigentum, Bundesamt für Gesundheit. Diese sind bemüht, die regulatorischen Vorschriften und deren Interpretation laufend den neuen Gegebenheiten anzupassen, also neuen klinischen Entitäten oder diagnostisch-therapeutischen Verfahren. Entsprechend der zunehmenden Komplexität der Materie sind spezifische Kenntnisse für die Dokumentation und den Umgang mit den regulatorischen Behörden im Translationsprozess unabdingbar. Diese Sachkenntnisse fehlen oder sind nach Ansicht der Agenturen bei Unternehmen oder Kliniken, die eher selten eine Studie durchführen, zum Teil ungenügend.
Die Motivation der Mitarbeitenden in regulatorischen Behörden sollte letztlich das Fördern qualitativ hochstehender neuer diagnostisch-therapeutischer Produkte im Interesse kranker Menschen sein. Nicht ganz überraschend werden jedoch die letztlich sinnvollen Funktionen dieser Behörden teilweise als Behinderung für den Translationsprozess wahrgenommen und neue, vor der Tür stehende Vorschriften im MedTech-Bereich gar als Bedrohung für KMU identifiziert (NZZ, 10. Juli 2014, Seite 33; 15. Nov. 2014, Seite 11). Die regulatorischen Anforderungen, insbesondere die zeitliche Abwicklung der entsprechenden Formalitäten erschweren den Ablauf der Translation, sodass die Meinung geäussert wurde, translationale Projekte könnten hierzulande fast nicht mehr kompetitiv durchgeführt werden. Dieser Eindruck wird – ob zu Recht oder zu Unrecht bleibe dahingestellt – kausal mit der Abnahme um 67% von Phase I Studien in den Jahren 2006 bis 2016 in der Schweiz in Verbindung gebracht. In die gleiche Richtung zielen die Ergebnisse einer Umfrage von Swiss Medtech bei der Schweizer Medizintechnikindustrie im Jahr 2016 (Abbildung 2). Für 74% der Befragten zählen «steigende Qualitäts- und Dokumentationsanforderungen» zu den grössten aktuellen Herausforderungen.
Abbildung 2: Herausforderungen der Schweizer Medizin­technikindustrie, ­Umfrage durch den Medical Cluster 2016 (Zustimmung in %).
Abgesehen von diesen im Wesentlichen auf Meinungen und weniger auf quantitativen Untersuchungen basierenden Einschätzung wird aber zweifellos die Translation hierzulande durch einheimische gesetzliche Bestimmungen erschwert, weil diese sich zum Teil von denjenigen in den potenziellen Verkaufsländern der EU und USA oder des Fernen Ostens unterscheiden. Vermutlich wegen des Bewusstseins um den ethisch sensiblen Translationsprozess wird jedoch praktisch nie eine «De-Regulierung» gefordert, sondern lediglich eine Reduktion des administrativen Aufwands und vor allem eine zeitliche Verkürzung der Bewilligungsverfahren.

Ärztliche Kompetenz

Translationales Arbeiten führt bei Ärztinnen und Ärzten aus mehreren Gründen zu inneren Konflikten. Trotzdem, bei der klinischen Anwendung neuer, innovativer Verfahren und Produkte sind neben einer adäquaten Infrastruktur höchstes medizinisches Können und Sorgfalt unabdingbar (Abbildung 3). Dies ist wegen Zeitmangel und maximal belasteter Infrastruktur als Folge der kontinuierlich zunehmenden Dienstleistungsbelastung in universitären Spitälern nicht mehr selbstverständlich. Um diesen Konflikt abzubauen, sollten deshalb heute vermehrt definierte personelle und infrastrukturelle Massnahmen in Erwägung gezogen werden. Der Translationsprozess setzt eine kontinuierliche bidirektionale Interaktion zwischen dem Partner der Industrie respektive des Grundlagenforschungsinstituts und dem Kliniker voraus. Diese Interaktion ist wegen räumlicher Distanz meist ungenügend. Ein möglicher Lösungsansatz sind für die translationale Zusammenarbeit spezifisch angepasste und reservierte Räumlichkeiten, bevorzugt in unmittelbarer Nähe des Universitätsspitals wie auf dem Balgrist- und Inselcampus, im Aufbau begriffen. Transla­tionsstudien sind richtungsweisend für das Schicksal von neuen, potenziell nützlichen und damit kommerzialisierbaren Produkten. Die kritische Analyse und ­Interpretation der klinischen Effekte ist unter dem ­bekannten pekuniären Druck der Investoren eine intellektuelle und charakterliche Herausforderung. Innovative Translationsprojekte sind in der frühen, forschungs­mässig spannenden und anspruchsvollen Entwicklungsphase lange andauernde Unterfangen, deren Resultate wegen der patentbedingten Geheimhaltungspflicht häufig nicht publiziert werden können. Die wesentlichen Währungseinheiten für die akade­mische Qualifikation sind jedoch nach wie vor bibliogra­fische Surrogat-Marker, weshalb aus karrieretechnischen Gründen forschungsorientierte Kliniker häufig Grundlagenprojekte, deren Resultate veröffentlicht werden können, den translationalen Studien vorziehen. Allerdings ist die ablehnende Haltung gegen das Partizipieren in grossen Multizenterstudien, die eigentlich keine wissenschaftliche Herausforderung mehr sind, weil die zu erwartenden erwünschten und unerwünschten Wirkungen der Innovation weitgehend bekannt und sowohl die Studienplanung als auch die Auswertung fremdgesteuert sind, aus akademischer Sicht nachvollziehbar. Die hohe ärztliche Kompetenz zusammen mit den Kosten in der Schweiz rechtfertigen solche qualitätssichernden Studien nur bedingt und der Fokus sollte eher auf die frühe Phase der Entwicklung von diagnostisch-therapeutischen Produkten und Strategien gelegt werden; denn zu diesem Zeitpunkt sind profunde Kenntnisse der Krankheitsmechanismen und disruptive Ideen von innovativen Klini­ker/-innen enorm gewinnbringend und deshalb letztlich auch mit den hierzulande hohen Kosten überhaupt vereinbar.
Abbildung 3: Theodor Kocher, Chirurg am Berner Inselspital, war ein Pionier im Umsetzen wissenschaftlicher Erkenntnisse in ­nützliche Verfahren am Krankenbett. Er erhielt dafür 1909 den ersten Nobelpreis der Schweiz.

Public-Private-Partnership (PPP)

Neue diagnostisch-therapeutische Produkte können von forschungsorientierten Kliniker/-innen nur in ­Zusammenarbeit mit der Industrie zur Marktreife entwickelt werden und vice versa. Eine PPP-Strategie drängt sich deshalb auf. Die grosse Anzahl von KMU und die Start-up-Unternehmen suchen den Kontakt zu hiesigen Universitätskliniken und arbeiten, soweit es die Bedingungen erlauben, interaktiv zusammen. Die grossen Unternehmen jedoch agieren in der Regel global, identifizieren die Länder bzw. die Kliniken mit den besten Rahmenbedingungen für den Translationsprozess und kontaktieren, häufig eher aus markttechnischen Gründen, einheimische Universitätskliniken. Soll die Translation mittelfristig hierzulande nicht weiter reduziert, sondern gefördert werden, so drängt sich diesbezüglich eine Verbesserung der Rahmenbedingungen in den Universitätsspitälern auf. Die im internationalen Quervergleich unbestrittene, sehr hohe einheimische ärztliche Kompetenz könnte dann erfolgreicher mit dem unternehmerischen Wissen der Privatwirtschaft zur Entwicklung disruptiv neuer dia­gnostisch-therapeutischer Produkte zum Nutzen der Patienten und letztlich auch zur Erhaltung oder Vermehrung von sinnvollen Arbeitsplätzen genutzt werden.
Prof. Dr. em. Felix Frey
sitem-insel AG
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felix.frey[at]sitem-insel.ch