Qualität in der ambulanten Medizin

Medikationssicherheit bei ­komplexen Patienten

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2017/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05972
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(41):1326–1327

Affiliations
a M.A., Verantwortliche Forschung & Entwicklung, EQUAM Stiftung; b Dr. med., Verwaltungsratspräsident mediX; c Mph, Geschäftsführerin EQUAM Stiftung

Publiziert am 11.10.2017

Medikationssicherheit ist ein wichtiges Thema in der ambulanten Medizin [2, 6], so viel ist unbestritten. So haben sich im Jahr 2016 über 40 Ärztinnen und Ärzte nach dem EQUAM Qualitätsprogramm «Medikationssicherheit» zertifizieren lassen. Dieses Programm beschäftigt sich mit der Medikation komplexer Pa­tienten. Dabei geht es nicht nur darum, ein Zertifikat zu erhalten; vielmehr sollen Erkenntnisse aus dem Zertifizierungsprozess in die Praxis übertragen werden. Doch was passiert konkret, wenn Qualitätsindikatoren zur Medikationssicherheit auf die tägliche Arbeit von Ärztinnen und Ärzten treffen? Die folgenden Zeilen beschreiben diesen Prozess und die Erkenntnisse, die sich daraus ziehen lassen.

Der Weg ist das Ziel

Am Anfang des Qualitätsprogramms zur Medikationssicherheit steht die Erstellung eines Registers. Während mindestens sechs Monaten markiert die behandelnde Ärztin alle sogenannten «Komplexfälle». Das sind ­Patienten, die mehrfach chronisch erkrankt sind oder über längere Zeit kritische Medikamente einnehmen. Zudem setzt sich die Ärztin gemeinsam mit ihren Arztkollegen und MPA mit Strukturindikatoren auseinander. Sie prüft etwa den Zustand der Praxisapotheke, schult Personal und hinterfragt IT-Strukturen.
Ist das Register einmal erstellt und sind die Vorbereitungen abgeschlossen, führt ein von der EQUAM Stiftung geschulter Arzt das Audit durch. Dabei werden einerseits die erwähnten Strukturindikatoren überprüft. Vor allem aber zieht der Auditor aus dem erstellten Regis­ter eine Stichprobe. Diese bespricht er in einer durch die Indikatoren strukturierten Peer-Review mit der Ärztin.
Aus dem Audit entsteht ein Bericht, auf dessen Grundlage Auditor und Ärztin Ziele und Massnahmen für die Zertifizierungsperiode von drei Jahren ableiten. Ein Jahr nach der Zertifizierung werden diese Ziele reflektiert und Massnahmen nachjustiert.

Muster sichtbar machen

Ein wichtiger Effekt beim Erstellen und Diskutieren des Registers ist, dass dabei nicht mehr der einzelne Patient im Fokus steht, sondern eine Patientengruppe. Der eigene Stil und die Regelmässigkeiten und Un­regelmässigkeiten in der Behandlung werden sichtbar. Das Register zeigt wiederkehrende Herausforderungen im Umgang mit Patienten und im Team.
Das Register und insbesondere die gemeinsame Sichtung erlauben damit einen Blickwechsel. Während die ärztliche Perspektive den Dialog mit dem einzelnen Patienten fokussiert, erlaubt das Register eine eher ­Public-Health-orientierte Sichtweise. Diese ist wie­derum unentbehrlich, wenn die Ärztin standardisiert und gleichzeitig mit Blick auf spezifische Patienten­bedürfnisse auf Chronizität und Multimorbidität eingehen will.

Vom Protonenpumpenhemmer
bis zur MPA-Schulung

Eine Durchsicht der bisher erstellten Auditberichte zeigt Interventionschancen auf. Eine Möglichkeit zeichnet sich im Bereich des sogenannten de-prescribing ab. Oftmals stellt sich bei polymorbiden Patienten die Frage, ob man nicht das eine oder andere Medikament absetzen könnte. Ein immer wieder über Jahre hinweg gegebenes Präparat sind Protonenpumpenhemmer. In vielen Fällen findet sich keine Diagnose (mehr) für die Verschreibung. Untersuchungen zeigen allerdings, dass eine Gabe über längere Zeit durchaus Risiken birgt, und zeigen Möglichkeiten zum de-prescribing auf [3, 4]. Dabei kommen wiederum Elemen­te vor, die das Qualitätsprogramm zur Medikationssicherheit thematisiert. Wesentlich für dasde-prescribing ist etwa, eine Medikationshistorie zu erstel­len und die Indikation im Gespräch mit dem Pa­tienten zu überprüfen.
An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass Struktur- und Prozessqualität für eine gute Ergebnisqualität unabdingbar sind. Damit nämlich die Ärztin und der Pa­tient die Indikation rechtzeitig überprüfen können, braucht es etwa gute und gelebte Regelungen für den Umgang mit Dauerrezepten. Prozessbeschreibungen und Schulungen für MPA – ein wichtiges Bindeglied zum Patienten – können hier helfen.

Nutzen und Grenzen der Standardi­sierung

Im Rahmen des EQUAM Qualitätsprogramms zur ­Medikationssicherheit wird das Patientenregister der Ärztin mehrfach geprüft; einerseits auf die saubere Führung der Diagnostik und Medikation, andererseits und insbesondere auf die Passung zwischen Medikation und Diagnose – also die Indikation der jeweiligen Medikation [5]. Zudem stärkt das Qualitätsprogramm die Interaktion mit den Patienten. Der Auditor dis­kutiert mit der Ärztin Themen wie Medikationsreview oder die Gestaltung einer Medikationskarte für Pa­tienten.
Das Qualitätsprogramm sensibilisiert so für das frucht­bare Spannungsfeld zwischen Behandlungsstandardisierung und Berücksichtigung individueller Bedürfnisse und Situationen der Patienten. Von einer Standardisierung der Behandlung wiederum pro­fitieren gerade Patienten mit tieferem sozioökonomischem Status am meisten – jene, die auch ansonsten ein hohes Risiko für Multimorbidität tragen. So zeigen etwa Doran et al. (2008) [1], dass die Einführung des Quality Framework in England mit einer Verringerung der Ungleichheiten in der Behandlung zwischen den sozialen Schichten einhergeht.

Die interessanten Ausnahmen

Doch nicht bei allen Patienten ist es sinnvoll und möglich, die Behandlungsstandards konsequent umzu­set­zen. Was ist zum Beispiel, wenn die Ärztin und der Patien­t gemeinsam zum Schluss kommen, eine bestimmte Diagnose gar nicht behandeln zu wollen? So kann es sein, dass auf eine medikamentöse Behandlung verzichtet wird, weil die Nebenwirkungen für diesen Patienten nicht tragbar wären. Um auch solche Fälle für die Peer-Review zu öffnen, braucht es Flexi­bilität. In der Pilotversion der überarbeiteten und nun neu erschienenen Version des EQUAM Qualitätsprogramms zur Medikationssicherheit haben Ärztinnen und Ärzte deshalb die Möglichkeit, Ausnahmen geltend zu machen. Ein Ausnahmefall kann diskutiert werden, fliesst jedoch nicht in die Bewertung ein. Was eine Ausnahme sein kann und wie man sie begründet, das lässt die EQUAM Stiftung bewusst in den Händen der Praktikerinnen und Praktiker
Das Thema Medikationssicherheit wird mit einer Zunahme von polymorbiden und chronisch kranken Patienten sicher auch in den nächsten Jahren aktuell bleiben. Die EQUAM Stiftung bietet dazu eine strukturierte Peer-Review mit geschulten Ärzten.

Fachtagung:

Qualitätsindikatoren in der ambulanten Medizin – entwickeln und implementieren

Dienstag, 14.11.2017, 13.30 bis ca. 17 Uhr in Bern
Qualitätsindikatoren für die ambulante Medizin sind in aller Munde. Aber was sind eigentlich Qualitätsindikatoren? Was braucht es, um relevante und valide Indikatoren zu entwickeln? Und was braucht es, um sie zu implementieren? Wie verankert man Qualitätsindikatoren in der Praxis? Welches sind die An­forderungen und Erwartungen der verschiedenen Player? Diese Fragen diskutieren wir an unserer Fachtagung.
Anmeldung unter: equam.ch
Marianne Jossen
Stv. Geschäftsführerin
EQUAM Stiftung
Effingerstrasse 25
CH-3008 Bern
marianne.jossen[at]­
equam.ch
1 Doran, T. et al. «Effect of financial incentives on inequalities in the delivery of primary clinical care in England: analysis of clinical activity indicators for the quality and outcomes framework», ­Lancet, Vol. 372 (2008), 728–36.
2 Payne, Rupert A. «The epidemiology of polypharmacy». ­Clinical Medicine 16, no. 5 (2016): 465–9.
3 Reeve, E. et al. «Review of deprescribing process and development of an evidence-based, patient-centered deprescribing process». ­British Journal of Clinical Pharmacology 78, no. 4 (2014): 738–47.
4 Reeve, E. et al. «Feasibility of a Patient-Centered Deprescribing Proces­s to Reduce Inappropriate Use of Proton Pump Inhibitors». The Annals of Pharmacotherapy 49, no. 1 (2015): 29–38.
5 Schiff, G. et al. «Incorporating Indications into Medication Order­ing – Time to Enter the Age of Reason». The New England Journal of Medicine 375, no. 4 (2016): 306–9.
6 Schwappach, D. et al. «Threats to patient safety in the primary care office: concerns of physicians and nurses». Swiss Medical Weekly 142, no. w.13601 (2012).