Evidence-based medicine: 
nicht immer so evident!

Zu guter Letzt
Ausgabe
2017/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05991
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(40):1316

Affiliations
Prof. Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 04.10.2017

Vor 25 Jahren beschrieben David Sackett und Kollegen die evidence-based medicine (EBM) als «den gewissenhaften, ausdrücklichen und umsichtigen Gebrauch der aktuell besten Beweise für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten» [1, 2]. Sie definierten die doppelblinde, prospektive, randomisierte Studie als optimalen Standard. Metaanalysen der besten Studien sollten klare Angaben zur Realisierung angemessener klinischer Verhaltensrichtlinien liefern. Dieser Ansatz aus der klinischen Epidemiologie – einer ­damals neuen Fachrichtung – trug zur Klärung vieler medizinischer Problemstellungen bei, wie zum Beispiel der Hormontherapie nach der Menopause, der Anti­koagulation bei Vorhofflimmern und der Indikation mehrerer chirurgischer Interventionen.
Die Anwendung der EBM im Klinikalltag erweist sich ­jedoch als deutlich schwieriger, ein Aspekt, der auch ­Sackett nicht entgangen ist. Er selbst kehrte ja auch nach Jahren als Professor für klinische Epidemiologie an der Universität für eine residency in den klinischen Alltag zurück. Die Hauptschwierigkeit der EBM liegt darin, dass sie krankheits- und nicht patientenorientiert ist. Somit entspricht der individuelle Patient nur selten dem jeweils untersuchten Kollektiv. Er hat ein anderes Alter, ein anderes Geschlecht, ein anderes soziales Umfeld oder leidet an weiteren Erkrankungen.
Das eigentliche Problem besteht jedoch gegenwärtig ­darin, dass die EBM durch die Industrie verändert wurde und zur – wie manche sagen – finance based medicine [3] wurde. Wer sonst verfügt über die erforderlichen Ressourcen, um prospektive, randomisierte Studien zu organisieren? Gesponsert von der Industrie, um deren Produkte auf den Markt zu bringen, befassen sich diese Studien häufig mit Fragestellungen, die medizinisch nur wenig relevant sind, beispielsweise der Optimierung von Surrogatparametern (surrogate outcomes) – Blutdruck, Lipide oder Glukose –, anstatt klinisch grundlegende Themen – kardiovaskuläre Komplikationen – anzugehen. Korrelationen werden dabei oft mit kausalen Zusammenhängen verwechselt. Das neu zu lancierende Medikament wird mit unzureichenden Dosierungen des Vorgängerpräparats verglichen, und oft werden Nebenwirkungen verschwiegen. Und, noch schlimmer: Nicht selten bevorzugen selbst renommierteste Zeitungen die von der Industrie gesponserten Studien aus wirtschaftlichen Gründen, denn die Separatdrucke – mit denen ihre Vertreter uns gerne bedienen – verkaufen sich teuer [4].
Wie sollen wir in der Praxis vorgehen, wenn wir zögern, eine neue Therapie anzuwenden, und wir selbst den besten Zeitschriften nicht mehr vertrauen können (ganz zu schweigen von den sogenannten Experten mit ihren akademischen Titeln)? Zunächst einmal sollten wir uns darüber klar sein, dass medizinische Fortschritte heute, in einer Zeit, in der chronische Erkrankungen vorherrschen, nicht immer so sensationell sind, wie uns die Presse manchmal weismachen will. Zuerst stellt sich die Frage, ob die in einer Studie untersuchte Probe für den gegebenen Patienten und die jeweils gegebene Situation zutrifft. Ergebnisse präventiver Therapien werden über mehr als zehn Jahre gemessen und eine über zwei Jahre laufende Studie, die nur Surrogatparameter untersucht, dürfte unsere Verhaltensweisen kaum verändern.
Häufig werden Studienergebnisse selbst in den renommiertesten Fachzeitschriften in relativen Prozentzahlen angegeben; beispielsweise: Das neue Medikament hat eine um 20% stärkere Wirkkraft als das alte oder das Placebo. Wichtig sind absolute Werte und die Ermittlung der Anzahl der zu behandelnden Patienten (number needed to treat: 1/[p(A)–p(B)] × 100. Dabei steht p für Wahrscheinlichkeit, A für die neue Therapie und B für die alte oder das Placebo). Liegt dieser Wert bei 100, ist zu bedenken, dass unser Patient nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:100 von dem Medikament profitieren wird, dass also 100 Patienten behandelt werden müssen, um bei einem einzigen Wirkung (oder Überleben) zu erzielen. Die 99 anderen tragen die Nebenwirkungen und medikamentösen Interaktionen – und die Kosten.
Letztlich sollten wir Vertrauen in unsere klinischen Kompetenzen haben, damit nicht – so Sackett – «die Praxis von der Evidenz tyrannisiert zu werden droht, denn selbst eine exzellente externe Evidenz kann sich als ­unanwendbar oder ungeeignet für einen speziellen Pa­tienten erweisen» [4]. Und wenn gewisse Professoren dem Beispiel Sacketts folgen und ihre klinische Erfahrung durch eine Assistenzzeit auffrischen würden?
hans.stalder[at]saez.ch