Psychiatrie und Politik

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2017/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.06066
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(40):1298–1299

Publiziert am 04.10.2017

Psychiatrie und Politik

Seit ihrer Entstehung als selbstständiges Fach der Medizin vor mehr als einem Jahrhundert hat die Psychiatrie gerungen, um psychische Ausnahmezustände zu erkennen und zu beschreiben. Im Laufe der Zeit haben sich die psychiatrischen Begriffe mehrmals gewandelt und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst. Die Politik macht es sich ­offenbar weniger schwer, eine Diagnose zu stellen und Staatsmänner in ein Schema zwischen gesund oder krank einzuordnen.
Der nordkoreanische Präsident hat einen Teil seiner Verwandtschaft, einen Onkel und einen Halbbruder, und ebenfalls enge, erfahrene ­Berater beseitigen lassen. Sein Volk lässt er in vollkommener Abgeschlossenheit von der ­übrigen Welt und unter dem Druck einer ­unablässigen Propaganda leben. Entgegen Protesten des Sicherheitsrats der Vereinten Natio­nen entwickelte er mit grossem Tempo ein Raketenprogramm mit dem Ziel, bald über interkontinentale Raketen verfügen zu könne­n. Seine Aufrüstungsbemühungen hat er in den letzten Jahren mit dem Test von acht Nuklear­bomben bereichert, wovon die letzte eine Wasserstoffbombe mit ungeheurer Sprengkraft war. Dass dieser Mann zu einigen Staaten, worunter die USA oder Japan, keine freundschaftliche Beziehung hat, kann sich geschichtlich erklären lassen. Weniger einfach ist sein Wunsch zu verstehen, mit den USA im Bereich militärischer Stärke eben­bürtig zu werden.
Die Weltgemeinschaft scheint gegenüber der nordkoreanischen Drohung ratlos zu sein und möchte eine kriegerische Lösung auf ­jeden Fall vermeiden, auch aus Furcht vor den immensen kollateralen Schäden. Der amerikanische Präsident, der eine schwierige Situation von seinen Vorgängern übernommen hat, kann sich nicht festlegen und erschreckt die Welt mit seinen Drohungen, die bisher noch nicht genügt haben, um Nordkorea zum Einlenken zu bewegen. In dieser dramatischen und für den Weltfrieden gefährlichen Situation sucht man nach geeigneten Vermittlern, wobei die Schweiz und vor allem Deutschland genannt worden sind. In einer seiner jüngsten Stellungnahmen hat der deutsche Aussenminister die Raketen- und Atomversuche streng verurteilt und verlangt den Druck auf Nordkorea durch ein ausgeweitetes Embargo zu verstärken. Gleichzeitig stellt er fest, dass der Präsident Nordkoreas nicht irre wäre, bei normaler geistiger Gesundheit, und nur danach trachte, sein Regime zu beschützen.
Dass das Regime von Nordkorea alles daran setzt, den Status quo aufrechtzuerhalten, scheint eine plausible Erklärung für dessen Verhalten zu sein. Der Preis, den es dafür bezahlen will, d.h. die totale Unterdrückung des eigenen Volkes bis zu dessen möglicher Zerstörung und die Bedrohung des Weltfriedens im allgemeinen, scheint uns ungeheurlich und, um mit den Worten des Aussenministers zu sprechen, irre zu sein.
Auch wenn das Verhalten der nordkoreanischen Führung irre und uneinfühlbar ist, darf man die Hoffnung nicht zu früh aufgeben und sollte man mit der Möglichkeit einer unerwarteten positiven Wende rechnen. Die Situation ist unberechenbar und die moralische Aufgabe, die sich in ähnlicher Form auch auf individueller Ebene stellen kann, schwer zu ertragen.