Kommentar zum vorangehenden Interview mit Pascal Strupler

Das elektronische Patientendossier: Die eierlegende Wollmilchsau?

Tribüne
Ausgabe
2017/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.06128
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(44):1477–1478

Affiliations
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes, Departement Digitalisierung / eHealth

Publiziert am 31.10.2017

Die Schweiz verwendet beträchtliche öffentliche Ressourcen, um der Digitalisierung im Gesundheitswesen unter dem Druck der Informationstechnologie zum Durchbruch zu helfen. Dabei wiederholt sie praktisch alle Fehler, die andere Länder bereits wieder am Kor­rigieren sind. Was damit gemeint ist, liest sich zusammengefasst in einem beachtenswerten Artikel des New England Journal of Medicine[1].
Der Druck der Industrie und deren Einfluss auf die ­Politik ist verständlich, wenn das Wachstums- und ­somit das ökonomische Gewinnpotenzial am Beispiel der USA vor Augen geführt wird, wo dieser Branche bereits 2009 mit der beinahe flächendeckenden Computerisierung der Gesundheitsinstitutionen ein Wachstum zugeschrieben wurde, das IT-Providern in keinem anderen Wirtschaftssektor in diesem Ausmass geglückt war. Weniger verständlich ist, dass der Bundesrat zur Förderung der Digitalisierung das «elektronische Pa­tientendossiergesetz» gewählt hat, welches sich beschränkt auf die Ablage von behandlungsrelevanten Dokumenten, welche unter der Hoheit des Patienten von dazu berechtigten Gesundheitsfachpersonen eingesehen und bearbeitet werden können.
Es ist unbestritten, dass der elektronisch geführten Krankengeschichte eine zentrale Bedeutung zukommt als Datenquelle für Monitoring und Forschung, und dass eindrückliche Qualitätsprojekte nur dank der Digita­lisierung der Krankenakte realisiert werden konnten. Kaiser Permanente[2] gibt uns dazu mit ihren Forschungsarbeiten eindrückliche Beispiele aus den Bereichen Prävention, Mortalität und Hospitalisationsrate, um nur einige zu nennen. Nur: das elektronische Patientendossier (EPD) enthält bloss Bruchteile einer Krankenakte, die meisten Dokumente in unstrukturierter Form, und wesentliche Voraussetzungen für ­einen weitergehenden Nutzen wie Rahmenbedingungen zu Data-Governance und Interoperabilität entziehen sich in der Schweiz der Regulierung.
Herr Pascal Strupler bleibt in seinem Interview zu Recht vorsichtig und allgemein in seinen Äusserun-gen zur Umsetzung des elektronischen Patientendos-
siergesetzes. Auf einige kapitale Herausforderungen möchte ich deshalb konkret hinweisen in Bezug auf die Fehler, die in den USA gerade wieder mit teurem Geld korrigiert werden:
– «Along the way (gemeint ist die rasante Digitalisierung), however, we lost the hearts and minds of 
the clinicians. We overwhelmed them with confus­ing layers of regulations. We tried to drive cultural change with legislation.» [1] Was Halamka und Tripathi rückblickend als zentrale Fehler werten, geschieht gerade jetzt in der Schweiz. Im Umfeld des elektronischen Patientendossiers gibt es weitere Gesetzgebungsprozesse, welche isoliert und teils im Widerspruch zueinander entstehen und bearbeitet werden. Sie weisen alle Schnittstellen zum EPD auf: das Datenschutzgesetz, das Heilmittelgesetz, das Gesetz zu den elektronischen Identifizierungseinheiten, das Gesetz über die elektronische Signatur oder das Krankenversicherungsgesetz.
– Nicht Programme zur Förderung der technologischen Investition (zum Beispiel die Anschubfinanzierung für Stammgemeinschaften als Provider des elektronischen Patientendossiers), sondern die Bedürfnisse und Innovationskraft der klinisch tätigen Gesundheitsfachpersonen stellten sich in den USA als entscheidende Treiber für die nutzenstiftende Digitalisierung heraus. Im Bundesamt für Gesundheit wird mit konstanter Hartnäckigkeit verhindert, dass medizinische Fachkräfte in Kaderpositionen die Gesetzgebungen und deren Umsetzung mitgestalten. In der Folge sind Gesundheitsfach­personen konfrontiert mit wenig praxistauglichen Lösungen und werden zu Unrecht mit dem Attribut des information blocking[1] versehen.
– In Bezug auf die Stärkung der Gesundheitskompetenz des Patienten reicht es ebenfalls nicht, diesem Zugangsrechte zum Patientendossier zu gewähren, mit der Möglichkeit eigene Dokumente dort abzu­legen. Auch diese Erfahrung haben andere Länder bereits hinter sich gelassen. Um Patienten zu be­fähigen, brauchen sie den Kontakt und die Kommunikation mit den betreuenden Gesundheitsfach­personen, nicht das Zugangsportal zum EPD. Dazu bräuchte es zum Beispiel eine Tarifrevision, welche auf zeitliche Limitierungen der intellektuellen ­Leis­tung verzichtet und die Kommunikation mit modernen Mitteln der gerichteten digitalen Kommunikation tarifarisch abgilt.
Die drei Themenfelder könnten durch eine Reihe weiterer Schwachpunkte ergänzt werden. In der Summe führen sie zu den gleichen fünf Defiziten, welche Halamka und Tripathi in ihrem Artikel aufzählen: wenig praxistaugliche Umsetzung, dysfunktionale Arbeitsabläufe, negative Auswirkungen auf die technolo­gische Innovation und die Interoperabilität sowie fehlende Unterstützung in der Gesundheitskompetenz der Pa­tienten. Wenn Herr Direktor Strupler konstatiert, dass die Einführung des Patientendossiers jetzt Knochen­arbeitet bedeutet, gebe ich ihm Recht. Diese Knochenarbeit bedeutet aber, dass jetzt ein Kurswechsel vorgenommen wird, welcher die betroffenen Gesundheitsfachpersonen in eine Schlüsselposition und eine Schlüsselverantwortung nimmt. Die Ankündigung einer «eierlegenden Wollmilchsau», unterstützt mit verpflichtendem Druck auf Gesundheitsfachpersonen, flankiert mit professionellen Marketingstrategien und realitätsfremden Versprechen an die Patienten werden nicht zielführend sein.
yvonne.gilli[at]fmh.ch
1 Halamka JD, Tripathi M. The HITECH Era in Retrospect.
N Engl J Med. 2017;377(10):907–9.