Briefe / Mitteilungen
Der Diskurs mit der IV nimmt Fahrt auf
Der Diskurs mit der IV nimmt Fahrt auf
Brief zu: Ritler S. Weiterentwicklung der IV. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(40):1282–4.
Sehr geehrter Herr Ritler
Besten Dank, dass Sie sich als oberster IV-Chef in unseren Diskurs einmischen! Und danke für den Hinweis auf die solide Vorarbeit von Niklas Baer und den Ausblick auf Lösungen; Letztere wurden ja auch von Herrn Dummermuth aus dem Kanton Schwyz beschrieben, der bereits Erfolge melden konnte. Auch wenn das nun in Zukunft gelöst werden sollte, es ist ein selbstgemachtes schon sehr altes Problem, das sich mir als Kinderpsychiater bald einmal abzeichnete: Mit dem NFA wurden die Kantone für die Sonderschulung zuständig, und diese dehnten die schulische Ausbildung natürlich nicht so weit aus wie früher die IV, nämlich bis zum 20. Lebensjahr, wenn das nötig war, sondern mit 18 (dem Rentenalter!) ist nun trotz Besitzstandswahrungspflicht Schluss! Damit haben wir seit 1.1.2008 plötzlich eine Menge von nicht berufsreifen ehemaligen Sonderschülern, die ungeeignet sind für die Angebote der erstmaligen beruflichen Eingliederung durch die IV! Hier war manchmal das Aushalten mit einer Rente, bis die nötige Reife herbeigeführt wurde, eine sinnvolle Lösung, und es entstanden auch Institutionen, die diese Aufgaben übernahmen, finanziert über IV-Rente und EL! Wie sollten die denn ohne Rente finanziert werden? Dass es auch immer mehr junge Leute gibt, die eben nach einem mehr oder weniger regulären Schulabschluss nicht berufswahlreif erscheinen, ist ein komplexeres Problem; Baer findet darunter viele Menschen mit sehr stark belasteten Kinderjahren und einer Diagnose in Richtung Persönlichkeitsstörung. Faktisch sieht das so aus, dass der Anspruch von Seiten der Arbeitgeber für eine reguläre Lehre inzwischen schlicht «Problemlosigkeit» ist, weil Lehrlinge rentieren müssen; der Lehrvertrag ist schneller aufgelöst als ein gewöhnlicher Arbeitsvertrag! Und dann eine weitere Lehrstelle zu finden ist schwierig. Es gibt Hilfestellungen der Kantone und der IV, aber es gibt nicht die relativ beschützenden Lehrstellen im ersten Arbeitsmarkt, um trotz den Schwierigkeiten weiterzumachen! Wer soll die Institution bezahlen, die sich nun dem Lehrling annimmt
Beides verweist aber auf ein volkswirtschaftliches Problem: Lange fuhr die bürgerliche Politik die Strasse, dass es für die Schweizer Wirtschaft 2 Arbeitswelten gibt, eine reguläre und eine geschützte, letztere über IV-Gelder finanziert. Noch in den 90er Jahren haben grosse ausländische Firmen unserer Grossindustrie empfohlen, Minderleister bei der IV anzumelden (verbürgte Mitteilung aus erster Hand!) – krank wurden sie von selbst unter dem Druck! Die IV hat in der Wirtschaftspolitik offenbar auch die Funktion, nicht fitte Arbeitnehmer aufzufangen!
Hier läuft die Wiedereingliederungskampagne der IV im Gegenkurs zur Wirtschaftspolitik! Auch wenn es gelungene Beispiele gibt, gibt es auch gelungende Beispiele von «Eingliederung dank Rente»! Das, und genau das, hat meine Kollegin der Erwachsenenpsychiatrie Frau Doris Brühlmeier Rosenthal aufzuzeigen versucht. Auch wenn ich selbst sehr skeptisch bin bezüglich einer frühen Berentung, sehr oft besteht schlicht keine Alternative!
Bisher ist noch niemand von der IV auf das Problem eingetreten! Würden Sie das noch tun?
Mit freundlichen Grüssen
Literatur
– Stefan Ritler, Vizedirektor Bundesamt für Sozialversicherungen BSV, Leiter Geschäftsfeld IV, in: Ritler S. Weiterentwicklung der IV. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(40):1282–4.
– Andreas Dummermuth lic. iur., MPA, Geschäftsleiter der Ausgleichskasse / IV-Stelle Schwyz, in: Dummermuth A. Zahlen aus dem Kanton Schwyz. Schweiz Ärztezeitung 2017;98(35):1119–22.
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