«Gesundheitsmarkt» – Ablasshandel im 21. Jahrhundert

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2017/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.06159
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(44):1455–1456

Publiziert am 31.10.2017

«Gesundheitsmarkt» – Ablasshandel im 21. Jahrhundert

Brief zu: Iff H. «Wir Gesundheitsverkäufer». 
Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(42):1379–81.
Vor 500 Jahren brachten die 95 Thesen eines Mönchs die Wende im langjährigen Ablassstreit. Martin Luther sprach der damals vorherrschenden religiösen Instanz die Macht ab, über das Seelenheil zu verfügen, Ablassbriefe zu vermarkten und sich damit betrügerisch zu bereichern. Unter der Devise «Solus Christus» stützte er sich auf die Bibel, worin der Ablasshandel nicht vorkommt, den die ­katholische Kirche zu einem lukrativen, parasitären Wirtschaftszweig auf Kosten ihrer Gläubigen und der übrigen Wirtschaft gemacht hatte. Luther verwarf auch das Kirchendogma der Transsubstantiation, wonach die Priester durch das Abendmahl-Sakrament Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandeln.
Und heute, gehören Begriffe und Praktiken des «Gesundheitsmarktes» in den Bereich des Wissens oder der Religion? Wie das Seelenheil ist Gesundheit kein handelbares Gut, sie ist ebenso wenig marktfähig wie der Himmel. Jedoch, dank seinem unbegrenzten Wachstumspotential, ist der «Gesundheitsmarkt» bald der grösste Zweig der Weltwirtschaft. Er ist ­lukrativ und in dem Masse parasitär, als er die menschengemachten Epidemien nicht verhindern will, sondern davon lebt und mittels «Gesundheitsindustrie» und «Gesundheitsversorgung» den Menschen Gesundheit verspricht. Dagegen steht die Asbestgeschichte: Keiner der drei verschaffte den ­Opfern der tödlichen Asbestkrankheiten Gesundheit; erst der öffentliche Entscheid, die Asbestindustrie zu schliessen, eröffnete eine Ära ohne diese Epidemie.
Spätestens seit Ödipus das Rätsel der Sphinx löste, wissen wir, dass am Abend seines Lebens der Mensch auf drei Beinen geht. Das dritte ist der Stab im Symbol der Medizin, um den sich die Schlange windet. Stab, Gift (griech. pharmakon) und ihre immer weiter ausgeklügelten Entwicklungen sind tote Materie, sie sind weder Teil des Lebens noch der DNA, sind nicht Gesundheit; sie Gesundheit nennen ist eine Form von Transsubstantiation. 65 000 Mal, Jahr für Jahr, beweist das Sterben, dass Behandlung letztlich nicht Gesundheit ist, es hält sich nicht an die Gesundheitsversprechen des Marktes und warnt dessen «Kunden». Und das Verbot der Asbestindustrie ist der Sieg der ärztlichen Deontologie über die Marktdeontologie:
In Theorie und Praxis baut erstere auf das Wissen, dass Gesundheit eine Grundgegebenheit ist, ausserhalb des menschlichen, auch ärztlichen, Tuns, grundlegend wie die Natur, Teil davon. Der hippokratische Eid achtet dieses Wissen, er setzt Hygiene vor Panazee: Stab, Gift etc. Diese Hierarchie begründet die Deontologie der FMH: Die beiden ersten Aufgaben des Arztes gelten der Hygiene, welche die Gesundheit schützt und stützt; erst die dritte geht über zur Behandlung, nicht der Gesundheit, sondern der Krankheiten. Anders die Marktdeontologie: Sie verwirft dies Wissen, setzt auch sprachlich den Markt über die ­Gesundheit. Ihre Herren sind Umsatz und Gewinn, darum setzt sie auf Behandlung, verallgemeinert sie und heisst sie «Gesundheit». So teilt sich die menschliche Institution Markt eine Macht zu, die sie nicht hat, und gleicht der mittelalterlichen Kirche.
Wer Markt sagt, sagt Händler, und der «Gesundheitsmarkt» hat seine Gesundheitshändler, die Ärzte. Sie gleichen den Ablasspriestern: Beide handeln mit nicht handelbarem Gut; das ist Betrug. «Gesundheitsmarkt» ist unvereinbar mit ärztlichem Wissen und ärztlicher Deontologie.