Bewohner

Horizonte
Ausgabe
2017/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.06165
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(46):1557

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 15.11.2017

Christoph Held
Bewohner
Zürich: 
Dörlemann Verlag; 2017
160 Seiten. 28.90 CHF
ISBN: 
978-3-0382-0050-5
Der Saal im Volkshaus war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Verlegerin sprach die ersten Worte zur Buchvernissage von Christoph Helds «Bewohner». Gesang und Musik begleiteten die Lesung einzelner Text­abschnitte aus dem Buch des Gerontopsychiaters, der viele Jahre für den Zürcher stadtärztlichen Dienst tätig war.
Eine Schauspielerin, ein Verwaltungsratspräsident, eine Köchin, ein Alkoholiker, eine Hausfrau, eine reiche Erbin. Sie verdichten die Biografien von Patienten, oder nach Adolf Muschgs Worten auf dem Buchumschlag: « – diese Masken bleiben, denn sie sind auf unerhörte Weise wahr, wahrer als ihre Träger im Leben sein durften.» Man spürt, dass der Autor als Regie- und Dramaturgieassistent an verschiedenen Theatern tätig war. Eigentlich habe er etwas Grösseres schreiben wollen, bekennt Christoph Held, aber dann habe er gesehen, dass der Pflegealltag dieses grössere war. In der exakten und wohlwollenden Beobachtung dieser schwierigen Pflegearbeit mit unheilbar erkrankten Menschen liegt die eine Stärke des Buches. Ein belastender Alltag, Konflikte und Auseinandersetzungen auf der Station, sind genauso auszuhalten, wie der Umgang mit An­gehörigen. Allein wie Pfleger und Pflegerinnen mit phantasievollen Anpassungen die Restautonomie ihrer Patienten zu bewahren suchen, verdient grössten Respekt. Ein Panoptikum in sieben Bildern, das den ersten Erzählband «Wird heute ein guter Tag sein?» weiterführt. Der Titel «Bewohner» habe ihm von den vielen Bezeichnungen, die im Umlauf sind, am besten gefallen, weil viele Pflegefälle in ihren langjährigen Krankheiten wie heimisch geworden seien. Die ausführ­lichen Lebensläufe schildern, wie sich im Rückblick viele Symptome der Demenz schon Jahre früher bemerkbar machten. Demenzkranke leben in den Ruinen ihrer Vergangenheit. Sich selbst haben sie dabei vergessen, aber in Bruchstücken können vergangene Alltagsszenen plötzlich wieder lebendig werden und einen persönlichen Zugang ermöglichen. Anschaulich beschreibt Christoph Held die existenzielle Verun­sicherung, wenn Vertrautes fremd wird und nicht einmal das eigene Gesicht im Spiegel erkannt wird. Die schleichende Katastrophe, die sich aus tieferen Zentren in die höheren Areale der Hirnrinde verbreitet, ist medizinisch noch weitgehend unverstanden. Was jeden Bewohner letztlich unvergleichlich macht, ist das Durchscheinen persönlicher Erlebnisse und Charakterzüge. Zur neurodegenerativen Krankheit gehören, neben dem Vergessen, auch Depressionen, Wahnvorstellungen, Angstzustände und oft auch Todeswünsche und Suizidgedanken. Ein Jahr nach Heimeintritt leben nur noch ein Drittel der Erkrankten. Dennoch bleibt Sterbehilfe ein immer gegenwärtiges Thema. Das Schlussbild, in dem auch eine Clownin mit einer Handorgel ihren ­Auftritt hat, rundet die Erzählungen ab. Medizinische Erklärungen sind im Text eingearbeitet, soweit sie zum Verständnis nötig sind. Das Buch dürfte in erster Linie Pflegende und Angehörige interessieren, aber auch Mediziner anderer Fachgebiete werden das hoch ­professionelle, aber dennoch leicht lesbare Buch mit Gewinn lesen.
erhard.taverna[at]saez.ch