… Rolf H. Adler, emeritierter Professor für Innere Medizin, Psychosomatiker, Psycho-Analytiker und Buchautor1

«Ich bin nie den Wänden entlang geschlichen»

Horizonte
Ausgabe
2017/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.06173
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(48):1625–1627

Affiliations
Freier Journalist und Fotograf, Medientrainer, Bern

Publiziert am 29.11.2017

Er wirkt klein und unauffällig. Er kann gut zuhören und spricht sanft. Er formuliert sehr präzise. Und bisweilen ist er bewusst angriffig, ja provokativ. «Ich kann nicht anders», sagt er, «ich war immer pointiert, manchmal sogar mehr als frontal», und ein spitzbübisch anmutendes Lächeln nistet sich im Gesicht des alten Mannes ein. Nach wie vor kämpft er gegen vieles. Vor allem aber setzt er sich auch mit über 80 Jahren ­unvermindert vehement für sein zentrales Credo ein: das Konzept der biopsychosozialen Medizin.

Grounding einer Klinik

Überraschend beginnt unsere Begegnung mit anderen Beteiligten an einem runden Tisch. Im ehemaligen Büro von Rolf Adler im Lory-Haus des Berner Inselspitals. Im Anbau des architektonisch wertvollen Salvisberg-Gebäudes arbeitet jetzt sein Nach-Nachfolger, PD Dr. med. Niklaus Egloff. Das Gespräch dreht sich zuerst um die beiden ersten Buchstaben auf Egloffs Namensschild: PD. Adler hat eben erst von dieser Beförderung erfahren, gratuliert herzlich und freut sich spürbar. «Dies ist meine grösste Erleichterung in den vergan­genen 17 Jahren», kommentiert er später. «Endlich ein Sicherungsbolzen im Gebäude der psychosomatischen Medizin.» 2001 hatte er «seine» Klinik verlassen, jetzt sieht er schwarz auf weiss die Bestätigung, dass sich sein Einsatz hier gelohnt hat. «Ich sah die Psychoso­matik nie als Spezialität, sondern als wichtige Querschnitts-Disziplin», erläutert er. 2013 wäre sie im stationären Bereich des Berner Universitätsspitals beinahe wegrationalisiert worden.

Rolf H. Adler

Prof. em. Dr. med. Rolf H. Adler wurde 1936 in Bern geboren, wo er auch Medizin studierte. Nach dem Staatsexamen 1962 war er Assistent an der Medizinischen Universitätsklinik, Bern und an der Psychiatrischen Klinik in Münsingen. 1967 bis 69 weilte er in den USA, an der University of Rochester, N.Y. bei Prof. George L. Engel. 1971 begann er als Oberarzt in Bern die Psychosomatik als Querschnittsdisziplin zu stärken. Auch absolvierte er in dieser Zeit eine psychoanalytische Ausbildung. 1978 wurde er am Berner Inselspital Chefarzt der Medizinischen Abteilung im C.L. Lory-Haus, 1997 Ordinarius für Innere Medizin, insbesondere Psychosomatik, 1998 Vorsteher des Departements Innere Medizin, Sozial- und Präventivmedizin sowie Psychosomatik. Seit seiner Emeritierung 2001 ist er teilzeitlich in einer Privatpraxis tätig. Rolf Adler ist verheiratet und Vater von fünf erwachsenen Kindern. Er lebt mit seiner Frau (und Kater Leo, wie er betont), in Kehrsatz bei Bern.
«Ja, das war ein Grounding», erinnert sich Egloff an die grosse Krise dieser Klinik, «zum Glück aber konnten wir uns rasch wieder positionieren.» Ein Zeitungsbericht hatte damals enthüllt, dass die Insel-Direktion die Bettenstation der Psychosomatik schliessen wollte. «Wegen der Fallpauschalen sind wir gezwungen, rentabel zu arbeiten», erklärte der damalige Personalchef im Berner «Bund». Rolf Adler ging auf die Barrikaden und sammelte Unterschriften. «Nach meinem Weggang wollte man uns abwürgen. Aber nach einem halben Jahr Kampf machte die Spitalleitung etwas, was sie vorher noch nie gemacht hatte: Sie nahm einen Entscheid zurück», stellt er heute mit Genugtuung fest. «Du warst deiner Zeit halt 20 Jahre voraus», sagt Egloff zu Adler. «Und ja, es stimmt schon: dank dieser beiden Buchstaben PD sind wir im System jetzt besser verankert.»

Naheliegend – und doch nicht

Seltsam, dass Ärzte für eine Selbstverständlichkeit nach wie vor derart kämpfen müssen. Für die Erkenntnis nämlich, dass der Mensch mehr ist als eine Maschine, die Mediziner mit technischen und biologischen Mitteln öffnen und reparieren können, wenn sie defekt ist. «Der Mensch ist weit mehr als sein Körper», sagt Rolf Adler, und dieser Satz tönt genau so banal wie dieser da: «Psycho-sozial heisst, dass die Lebensumstände und die Geschichte des Menschen eine Rolle in Gesundheit und Krankheit spielen.» Ein Allgemeinplatz, scheint es. «Das stimmt schon», sagt Adler. «Und doch ist dessen Anerkennung immer noch ein Auf und Ab.» Warum also ist der Kampf für etwas derart Naheliegendes nach wie vor nötig?
Wie so oft, antwortet Adler mit einer bildhaften Geschichte. Sie setzt an beim Studium: «Empathie ist bei vielen Studentinnen und Studenten wie eine blühende Alpwiese, die von einem Bergsturz, nämlich der Ausbildung, verschüttet wird.» Weiterhin spiele eine ganzheitliche Sicht auf den Patienten im Studium eine untergeordnete Rolle. «Seien wir nicht naiv», sagt er, «fünf Prozent für dieses zentrale Thema sind in einem universitären Studienplan eindeutig zu wenig.»
Im Spital und in der Praxis sei es dann vor allem die Ökonomie, die an allen Ecken und Enden drücke und zerstöre. «DRG und Diagnosegruppen sind Zeichen für einen Misstand», schreibt Adler in einem seiner pointierten Artikel. «Und sie brachten ja auch keine Einsparungen», ergänzt er im Gespräch. «Die Ökonomie schliesst offene Türen wieder.»

Kostendämpfer? Von wegen!

A propos Kosten: Auch die Telemedizin dämpfe sie nicht, ist Adler überzeugt. «Telemed ist überflüssig und un-ärztlich. Ich kann doch als Arzt einen Patienten nicht am Telefon beraten, wenn ich ihn in seinem psychosozialen Kontext nicht kenne», stellt er fest. Und die medizinische Beratung in Apotheken? «Da sage ich bloss: Schuster, bleib bei deinen Leisten», sagt Adler –und erzählt die Geschichte eines Freundes, dem der Apotheker eine Warzensalbe verkauft hat. «Die Auffälligkeit auf seiner Hand entpuppte sich dann allerdings als Karzinom.»
Leeres Schlucken – und weiter in der Kostendämpfer-Diskussion: Etwas, was bloss unnötiges Geld koste, seien alternative Heilmethoden wie die Homöopathie, sagt Adler. «Sie läuft jeder wissenschaftlichen Erkenntnis zuwider und bietet nichts, was über den Placebo-­Effekt hinausreichen würde. Solche Methoden sind grotesk und gefährlich.»
Adler ist pointiert, wie gesagt. «Ich bin nie den Wänden entlang geschlichen. Gerade aus komplementärmedizinischen Kreisen kamen mir deswegen richtige Shit-Storms entgegen», ergänzt er, eher amüsiert als verärgert. «Viele aber achteten und achten mich, weil ich halt auch als Somatiker etwas zu bieten habe.» Entscheidend sei die Evidenz. «Die mathematische Evidenz charakterisiert die mechanische Medizin. Aber sie erfasst nur, was wir biochemisch messen können. Dazu kommt aber eine geschichtliche Evidenz, die für ein Krankheitsbild mitentscheidend sein kann.» Angesprochen auf ein konkretes Beispiel erzählt Adler die Geschichte einer Patientin mit anhaltenden Schmerzen nach einer Knie-Operation. «Im Gespräch kamen Missbrauch, Herabminderung und Bedrohung in der Familie ans Tageslicht. Solche Faktoren können mitverantwortlich sein für grosse Schmerzen im späteren Leben.»
Das Gespräch zwischen Arzt und Patient ist ein weiterer Schwerpunkt in Adlers Schaffen und Schreiben. «Meinen Schlüssel dazu erlebte ich in Rochester im US-Bundesstaat New York, wo ich Ende Sechzigerjahre arbeitete», erinnert er sich. «Vom ersten Tag an sah hier der Student Patienten, nicht nur Präparate. Ich lernte, die richtigen Fragen zu stellen und während des Gesprächs zu beobachten. Und nicht nur die Krankheit zu sehen, sondern den Menschen mit seiner Krankheit –in seiner Umwelt.» Eine andere Art, «biopsychosoziale Medizin» zu definieren.

Immer wieder staunen

Jetzt sitzen wir an der Herbstsonne vor dem schönen halbrunden Teil des Lory-Hauses, unter farbigen Bäumen, am Fuss des Engländer-Hubels, wie der malerische Hügel hinter uns heisst. Rolf Adler erzählt von seiner Mutter, die über 100 Jahre alt wurde, von seinem Vater, der jähzornig gewesen sei und in Bern viele Jahre lang ein Kleidergeschäft geführt hatte – und von der ehemaligen Bundesrätin Ruth Dreifuss: «Sie war meine Pflegschwester, und ich versuchte sie immer wieder davon zu überzeugen, die Komplementärmedizin aus der Grundversicherung zu kippen. Sie aber sagte, sie habe noch ein paar Millionen andere Kunden als mich.»
Wir lachen – und werden dann wieder ernst. «Herbst des Lebens» ist jetzt das Thema. «Es geht mir gut», freut sich Rolf Adler, «ausser einem Problem mit meinen Mitral­klappen habe ich zum Glück keine grösseren ­gesundheitlichen Einschränkungen. Aber vor einer Operation habe ich grossen Respekt. Angst habe ich vor einem möglichen Kontrollverlust.»
Das Herzklappen-Problem hat er übrigens selber dia­gnostiziert, mit einem alten Hörrohr. Seine robuste Gesundheit verdanke er unter anderem dem Umstand, dass er immer sehr sportlich gewesen sei. «In den 50er-Jahren spielte ich in der ersten Mannschaft des Schlittschuhclubs Bern. Während des Studiums wechselte ich dann in die zweite Mannschaft.»
Nach wie vor ist Rolf Adler in dieser Gesellschaft ein aktiver Mitspieler. «Ich habe viele Geschichten in mir», sagt er. «Und immer wieder ein tiefes Staunen – letzthin zum Beispiel über Gravitationswellen. Das Nicht-Messbare, das Nicht-mehr-Vorstellbare.»
Und der Tod? «Wissen Sie», schmunzelt er, «ich habe mit dem Erfinder des Defibrillators darüber gesprochen. Er sagte: ‘Wenn’s soweit ist, sind Priester, Pfarrer und Rabbiner genauso ängstlich wie das übrige Publikum.’ Ich nehme an: Ärztinnen und Ärzte auch.»
Rolf H. Adler
Herausforderung für die Biomedizin: 
Das biopsychosoziale Konzept
Reflexionen seit der Emeritierung (2001–2016)
Basel: EMH Media; 2017.
171 Seiten. 24.50 CHF.

Hinweis

Peter Weibel hat das Buch von Rolf H. Adler in der Schweizerischen Ärztezeitung rezensiert: Weibel P. Zu Rolf Adlers Reflexionen seit der Emeritierung: Der Mensch ist mehr als seine Krankheit. 2017;98(37):1202.
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