Über Kalender oder: 
Was wirklich wichtig ist

Horizonte
Ausgabe
2017/49
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.06212
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(49):1664–1666

Affiliations
PD Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft

Publiziert am 06.12.2017

Jetzt liegen sie wieder stapel- und kistenweise in den Geschäften. Die nächstjährigen Agenden für diejenigen, die sich (noch) analog organisieren. Unsere eigenen Termine zählen heute zum Bedeutendsten, was wir wissen müssen. Ich erinnere mich, wie ein deutscher Entertainer vor Jahrzehnten seines Terminkalenders verlustig ging – ausgerechnet in der Phase seines steilsten Karriere-Aufstiegs – und reihenweise Interviewtermine und dergleichen verpasste.
Kalender sagen uns nicht nur mit den handschrift­lichen, persönlichen Terminen, was wirklich wichtig zu wissen ist, sondern auch mit dem an den einzelnen Tagen Hineingedruckten. Zum Beispiel, dass die Näfelser Fahrt am ersten April-Donnerstag im Jahreslauf der Schweiz wichtiger ist als das vergeblich gesuchte muslimische Opferfest, auch wenn es hierzulande zehn Mal mehr Muslime als Glarner gibt: Die Näfelser Fahrt ist ein offizieller kantonaler Feiertag.
Und dann gibt es die bedruckten Seiten in den Agenden, die vor dem Neujahrstag oder hinter Silvester angesiedelt sind. Für noch mehr Wichtiges, das wir das ganze Jahr mit uns herumtragen. Zum Beispiel die Karte mit den Zeitzonen von Antigua bis Zypern und die Kreuztabelle internationaler Telefonvorwahlen, falls wir zufällig auf Zypern sind und nach Antigua ­telefonieren müssen. So wie James Bond eben. Eine Bekannte hat mir neulich ­erzählt, wie sie sich mit einer solchen Agenda in der ­Tasche früher immer richtig wichtig gefühlt habe.
Unverzichtbar auch die Schulferien übers Jahr, kantonal sortiert. Wer Pech hat, findet in seiner Agenda statt den bernischen diejenigen von Mecklenburg-Vorpommern. Und dann natürlich eine Landkarte. Bisweilen eine von Europa im gehobenen Briefmarken-Format. In einer denkwürdigen Szene der deutschen Film­komödie «Theo gegen den Rest der Welt» (1980) müssen die Guten mit Hilfe einer solchen Mikro-Karte die ­Bösen quer durch Europa verfolgen.
Ich erinnere mich auch, als Heranwachsender in meinen ersten Agenden die Liste der Messe­­termine übers Jahr bestaunt zu haben. Angesichts von Fachmessen wie der für Gastro-Technik (oder so ähnlich) wurde mir klar, wie viele verschiedene Wichtigkeits-Welten es gibt.
Viele Berufe haben Spezial-Agenden mit ihren eigenen Wichtigkeiten: etwa die­je­nigen für Lehrkräfte mit Zensurentabellen. Den Bauernkalender(.ch) lassen wir hier besser beiseite. Nicht nur, weil er für die Wand und nicht für die Tasche bemessen ist, sondern aufgrund seiner freizügigen Fotografien auch aus Gründen der Schicklichkeit.
Einen aktuellen analogen Taschenkalender für Ärztinnen und Ärzte habe ich nicht gefunden. In deren Kitteltaschen stecken heute bevorzugt Notfall-Kompendien oder Wörterbücher, geht man von den heutigen Verlagsangeboten im «Pocket»-Format aus. Auch eine ­grosse Fachbuchhandlung musste in Sachen Ärzte­kalender passen. Dabei hat die Geschichte der Kalender auch einiges mit Medizin zu tun. Astrologische Aderlass-Kalender zählten zu den frühesten Massenprodukten des Buchdrucks. Das waren aber keine Agenden, um persönliche Termine einzutragen. Die Anzahl anberaumter Meetings hielt sich in der Frühneuzeit gemeinhin in Grenzen. Es waren gedruckte Anleitungen, in welchem Sternbild an welcher Körperstelle und an welchen Tagen zur Ader zu lassen sei. Das wollten die Käufer wissen. Erst so genannte «Schreibkalender» boten zusätzlich unbedruckte Fläche für persönliche Notizen. Mehr als eine Art Tagebuch, Rechenschaftsbericht oder Notizheft. Das Individuum wurde sich selber auf dem Weg in die Moderne über diese leeren Seiten Schritt für Schritt wichtiger.
In ihren Volkskalendern versuchten die Aufklärer, das in ihren Augen unverzichtbare Wissen – etwa über Kleeanbau oder Pockenschutzimpfung – neben den Messe-Terminen unters Volk zu bringen. So wurde diese Gattung Kalender zu Almanachen mit lehr­reichen Abhandlungen. Und die Aufklärer vertrieben die Aderlass-Männlein aus ihnen. Später kamen sie wieder herein, selbst in den Berner Kalender des Volksaufklärers Jeremias Gotthelf / Albert Bitzius (1797–1854). Der Aderlass war für die Leser eben doch noch zentral. Genauso wie die jährlichen Messe-Termine.
In dieser Zeit, als Staaten ihre Stärke zunehmend auf eine effiziente Verwaltung und Regierung bauten, begann die grosse Zeit der «Staats-Kalender». Auch sie waren nicht für eigene Notizen gedacht, sie listeten ­jedes Jahr aufs Neue alle Beamten und alle Organisa­tionen des jeweiligen Staates feinsäuberlich auf – und tun dies unter diesem Namen bis heute. Wer auf welcher Position sitzt und welche Einrichtung wofür zuständig ist, das war und ist ihnen das Wesentliche.
Vor dem Hintergrund der «Staatskalender» versteht man auch die speziellen Ärzte- und Medizinal-Kalender besser, die ab dem späten 19. Jahrhundert gehäuft auftraten. Der «Schweizerische Medizinal-Kalender» etwa erschien ab 1879 über mehr als 130 Jahre erst bei (Benno) Schwabe (siehe Abbildung auf der vorherigen Seite) und später als «medkalender» im Schweizerischen Ärzteverlag EMH. Im hinteren Teil befand sich in den Anfängen ein eher schwerfälliges Sammel­surium mit Listen von Ärzten, Sanatorien oder Kurorten. Das Medizinalwesen war zu einem bedeutenden Gebäude angewachsen, und so repräsentierte es sich in diesen Kalendern mit einem gewissen Stolz. Ein vorderer Teil sollte – sozusagen «für die Rocktasche» – jene praktischen In­formationen bieten, auf die ein Arzt ­unterwegs plötzlich angewiesen sein konnte – wie Wiederbelebungsmethoden, der Schwangerschaftskalender oder Umrechnungstabellen. Als sich der ärztliche Alltag vom «Rezeptieren und Repräsentieren» mehr in Richtung «Krisenintervention» bewegte, begannen die langen Adresslisten in den Rocktaschen zu stören. Aus den langfädigen Kalenderabteilungen entstanden mit der Zeit eigenständige Jahrbücher – für das Regal statt für die Rocktasche.
In den frühen Taschen-Kalendern für Ärzte war der Raum für persönliche Notizen, seien es Erinnerungshilfen oder anstehende Aufgaben, bestenfalls eine ­Nebensache. Erst später verstand man unter «Kalendern» vor allem Agenden mit Platz für eigene Termine. Kalender für die zukünftige Zeitplanung kamen etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auf, sagt der Kulturwissenschaftler und Kalender-Historiker Prof. Alfred Messerli. Sie reagierten auf eine neue Zeitökonomie im gediegenen Bürgertum, zu dem sich auch die Ärzteschaft rechnete.
Der «Taschenkalender für Ärzte der schweizerischen Eidgenossenschaft» von 1873 im kleinen Oktavformat ist ein plastisches Beispiel für diese Übergangsphase (siehe Abbildung unten). Die gute Hälfte des Kalender-Raums nimmt bereits ein «Notizkalender» mit einer halben Seite freiem Platz für jeden Tag ein. Der war wohl noch eher für Aufzeichnungen der Krankenbesuche vorgesehen. Die gleichzeitige Nutzung für anstehende Termine und Aufgaben ist aber wahrscheinlich. Der Tagesablauf ­eines Arztes gestaltete sich damals zunehmend durchstrukturiert, so dass eine Planung und Erinnerung notwendiger wurde. Wann muss ich wieder bei welchem Pa­tienten vorbeischauen? Wann trifft sich der Ärzteverein?
Sonntage sind in dieser Agenda nicht abgesetzt. Für diese Ärzte war jeder Tag ein gleichwertiger möglicher Arbeitstag. Die christlichen Feiertage sind nur sparsam erwähnt. Für jeden Tag sind Sonnenaufgang und -untergang minutengenau angegeben. Dazu die jeweilige Mondphase. Das hat nichts mit Astrologie und Esoterik zu tun. Für die damaligen Hausärzte, die ihre Hausbesuche bestenfalls mit der Kutsche und normalerweise in kaum beleuchteten Strassen machen mussten, war ein genaues Wissen um die erwartbare Helligkeit zen­tral. Manchmal ging es da schon um Minuten.
Eine Seite aus dem Agenda-Teil des «Taschenkalenders für Ärzte der schweizerischen ­Eidgenossenschaft». ­Zehnter Jahrgang, Bern 1873.
Wenn es heute diese speziellen papiernen Ärzteagenden auch nicht mehr gibt, so finden wir Ähnliches doch vereinzelt noch in den Nachbarbereichen. So gibt es Schwangerschafts- oder Impfkalender für die ­Pa­tienten. Sie enthalten sozusagen die Messetermine der Gesundheit. Es gibt Kalender für Pflegekräfte und solche, die es werden wollen. Und dann ist da noch mein absoluter Favorit: der mächtige «Psychologie Kalender» für die Schreibtische der deutschsprachigen Psych­ologen (jedes Jahr neu bei Hogrefe). Ich liebe ihn, weil sich in ihm heute noch die grosse Geschichte des Kalenderwesens spiegelt – und die Frage, was wirklich wichtig war und ist: Er ist einerseits eine moderne Agenda mit über einhundert Seiten für persönliche ­Tagesnotizen und -termine, mit den Schulferien, einer Deutschland- und Europakarte sowie den anstehenden Tagungen und Kongressen. Und er ist als das «grosse Adressverzeichnis der Psychologie» (so der Untertitel) andererseits einer dieser alten «Repräsentations-­Kalender». Dieser listet neben den Fachgesellschaften und ­deren Statuten auf sage und schreibe dreihundert Seiten Ausbildungsstätten und «alle sonstigen Institutionen, die Psychologen beschäftigen» auf. Respekt! Nur Aderlassmännlein enthält er keine. Dafür das Allerwichtigste, was jeder Kalender haben sollte: den Bestellzettel für die nächstjährige Ausgabe.
eberhard.wolff[at]saez.ch