Seminar der FMH und weiterer Akteure des Gesundheitswesens am 12. September in Bern

Globalbudgets – eine Scheinlösung?

FMH
Ausgabe
2017/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.06216
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(47):1562–1565

Affiliations
Dr. med. et lic. phil., Chefredaktor

Publiziert am 21.11.2017

Umfassende Globalbudgets werden auf nationaler Ebene zunehmend diskutiert. Vor diesem Hintergrund veranstalteten die FMH und weitere Akteure des Gesundheitswesens1 in Bern das Seminar «Auswirkungen von Globalbudgets auf die ­Patienten – Auslandberichte, Inlanderfahrungen und juristische Aspekte».
Die Veranstaltung sollte mit dem Thema befassten Experten des Gesundheitswesens die Möglichkeit bieten, sich ein realitätsnahes Bild von den Vor- und Nach­teilen von Globalbudgets im Gesundheitswesen zu machen. Auf praktische Erfahrungen der eingeladenen Referenten wurde deshalb seitens der Organisatoren grosses Gewicht gelegt, wie Gesundheitsökonom Willy Oggier, der die Tagung moderierte, in seiner Eröffnungsansprache betonte. Diese Voraussetzung war sowohl bei den Schweizer Referenten als auch bei den­jenigen aus Deutschland in hohem Mass erfüllt. Un­eingeschränkt galt dies für den ersten Redner, den Juristen Rainer Hess. Bis 2005 war er Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in Deutschland und übernahm danach den Vorsitz des gemeinsamen Bundesausschusses, deren Trägerorganisationen Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft sind. In diesen Funk­tionen hatte er reichlich Gelegenheit, aus erster Hand Erfahrungen mit Globalbudgets zu sammeln.
Willy Oggier
Rainer Hess

Einnahmenorientierte Ausgabenpolitik

Allerdings, so stellte Hess gleich klar, kennt Deutschland in der Gesundheitsversorgung kein Globalbudget im Sinn einer «festen Ausgabenbegrenzung über alle Versorgungsbereiche hinweg». Ein entsprechender gesetzgeberischer Ansatz scheiterte am deutschen Bundesrat, der Kammer der Bundesländer. Geblieben ist indessen der «Grundsatz der Beitragssatzstabilität». Wie der Ökonom Volker Ulrich erläuterte, ist darunter eine «einnahmenorientierte Ausgabenpolitik» zu verstehen. Sie ist dadurch charakterisiert, dass «pro Kalenderjahr in einem bestimmten Ausgabenbereich für alle Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung nur eine Geldmenge ausgegeben werden darf, die derjenigen des Vorjahres entspricht und um den Prozentsatz der Grundlohnsummensteigerung angepasst werden kann». Damit soll verhindert werden, dass der für die Krankenversicherung benötigte Lohnanteil überproportional zunimmt.
Volker Ulrich
Was insbesondere für Politikerohren verlockend klingen mag, führt in der Umsetzung zu diversen Problemen, wie die Ausführungen der deutschen Referenten Hess und Ulrich deutlich machten. Diese rufen wie­der­um nach Korrekturmechanismen, die weit von der einleuchtenden Einfachheit des ursprünglichen Modells wegführen. Rainer Hess wunderte sich auch aus einem anderen Grund darüber, dass die Schweiz «auf dieses Thema einsteigt». Während die Gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland nach dem Sachleistungsprinzip funktioniert, gilt in der Schweiz das Kostenerstattungsprinzip. Dies bedeutet, dass in Deutschland Vertragsärztinnen und -ärzte ihre Behandlungen als Sachleistung erbringen und keinen Anspruch auf eine feste Vergütung ihrer Leistungen haben, sondern lediglich einen Anspruch auf Teilnahme an der Honorarverteilung. Unter solchen Voraussetzungen, so Hess, lasse sich durchaus budge­tieren, während in der Schweiz das System «total umgekrempelt» werden müsste, da hier jede ärztliche Leistung mit einem fixen Betrag abgegolten wird.

Negative Gesamtbilanz der deutschen  Experten

Ein Grundproblem des deutschen Systems besteht dar­in, dass die Höhe der Gesamtvergütung (des «Globalbudgets») nicht von Faktoren wie demographische ­Entwicklung, Veränderung der Morbidität, medi­zinischer Fortschritt oder Entwicklung der Anzahl Ärzte beeinflusst wird. Massgeblich ist lediglich die Steigerung der Grundlohnsumme, also ein sachfremder Parameter. In der Gesamtbilanz der deutschen Experten überwogen die Contras gegenüber den Pros für Globalbudgets denn auch deutlich. Letztere erschöpften sich laut Hess und Ulrich im Wesentlichen darin, dass Globalbudgets tatsächlich eine Möglichkeit darstellten, um in einer gesetzlichen Krankenversicherung eine Ausgabenobergrenze festzusetzen. Bereits bei der Frage, nach welchen Kriterien ein Globalbudget festzulegen sei, begännen aber die Probleme. Klar sei, dass in einem Globalbudget derjenige wirtschaftlich arbeite, der es schaffe, sich von der Versorgung kranker Menschen fernzuhalten. Da sich das Budget – zumindest in Deutschland – nicht am Behandlungsbedarf orientiere, seien Einschnitte in der Gesundheitsversorgung unvermeidlich. Die Rationierung medizinischer Leistungen nehme zu, und eine Zweiklassenmedizin mit Wartelisten und Patientenselektion sei die Folge.

Globalbudget in der Versicherung «­wesensfremd»

Eine umfassende juristische Sicht auf das Thema ­Globalbudget bot der St. Galler Rechtswissenschaftler Ulrich Kieser. Er erinnerte daran, dass «sich die Versicherung auszeichnet durch die zugesicherte Leistung beim Eintritt des befürchteten Ereignisses». Der Finanzierungsbedarf wird dabei durch eine «Gegenleistung», in der Regel in Form einer Prämie, gedeckt. Im Schweizerischen Krankenversicherungsgesetz KVG ist festgehalten, dass eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung zu möglichst günstigen Preisen erfolgen muss. Welche Kosten insgesamt entstehen, führte Kieser aus, sei gewissermassen zweitrangig. Ein Globalbudget könne den Leistungsanspruch nicht beschrän­ken und sei in der Versicherung «wesensfremd». Es gebe denn auch keinen Zweig der schweizerischen Sozialversicherung (AHV, IV, Unfallversicherung, berufliche Vorsorge), in dem ein Globalbudget bestehe. Kieser stimmte mit seinen deutschen Vorrednern dar­in überein, dass die Anbindung eines Globalbudgets an eine Grösse wie die Nominallohnentwicklung sachfremd wäre. Knifflige juristische Probleme ergäben sich auch beim Erreichen der Globalbudgetgrenze. Da der Leistungsanspruch nicht begrenzt werden könnte, müsste eine Korrektur über die Entschädigung der Leistungserbringenden erfolgen. Dabei müssten das Rechtsgleichheitsgebot und das Willkürverbot beachtet werden. Wenn Leistungserbringende zuvor keine übermässigen Leistungen erbracht hätten, wäre es gemäss Kieser nicht zulässig, sie darauf zu verpflichten, dieselben Leistungen zu tieferen Tarifen oder Preisen zu erbringen.
Ulrich Kieser
In seinem Fazit hielt Kieser fest, dass ein Globalbudget das heutige Versicherungssystem aushebeln würde, weshalb die umfassende Einführung eines Globalbudgets verfassungsrechtlich kritisch zu würdigen wäre. Dazu komme, dass bei einem rigiden Globalbudget schwierigste Durchführungsfragen entstünden.

Erfahrungen aus den Kantonen Waadt und Tessin

Über konkrete Erfahrungen aus Kantonen, die im Bereich der stationären Versorgung bereits mit Globalbudgets arbeiten, berichteten Oliver Peters, Directeur général adjoint am Universitätsspital Lausanne (CHUV), und Christian Camponovo, Direktor der Clinica Luganese, Lugano. In ihren Kantonen wird für jede Institution ein Globalbudget ausgehandelt. Ulrich Kieser hatte in seinem Referat bereits darauf hingewiesen, dass Spitäler und Pflegeheime bedarfsgesteuert sind, so dass es in diesen Fällen einfacher oder überhaupt möglich sei, ein realistisches Budget zu berechnen. Dieser Vorgang könne aber nicht einfach auf den ambulanten Bereich übertragen werden. Tatsächlich kam der Kanton Waadt Ende 2006 von Globalbudgets ab, die den stationären und ambulanten Bereich von Spitälern abdeckten. Seit 2007 betreffen die Globalbudgets nur noch die stationär erbrachten Leistungen.
Oliver Peters
Die Bilanz der beiden Spitalmanager fiel sehr unterschiedlich aus. Aus der Sicht von Olivier Peters ist ein Globalbudget ein nützliches Instrument, um die Mengenausweitung zu kontrollieren. Um wirksam zu sein, müsse es allerdings umfassend und differenziert ausgestaltet werden. Rationierungseffekte liessen sich durch eine Leistungskorrektur und einen Aufnahmezwang verhindern. Christian Camponovo führte die positive Beurteilung seines Vorredners teilweise darauf zurück, dass ein Universitätsspital bei der Aushandlung des Budgets im Vergleich zum Privatspital, dem er vorsteht, wahrscheinlich bessere Karten habe. Jedenfalls konnte er Peters’ Sichtweise nicht teilen. Nach seiner Erfahrung lösen Globalbudgets die anvisierten Probleme nicht oder nur scheinbar. Die Kosten würden bestenfalls kurzfristig sinken, und ein posi­tiver Effekt auf die Hospitalisierungsraten sei nicht sichtbar. Dagegen ergäben sich viele praktische Pro­bleme für die Patienten und Leistungserbringer. Nicht zuletzt leisteten Globalbudgets falschen Anreizen Vorschub. Als Beispiele für negative Auswirkungen nannte Camponovo die Verringerung des Wettbewerbs, tiefere Investitionen in die Qualität und budgetbedingte Schwierigkeiten bei der raschen Verpflichtung hochqualifizierter Arbeitskräfte.
Christian Camponovo

Unter dem Strich grosse Skepsis

Fazit: Die referierenden Experten der Tagung konnten flächendeckenden Globalbudgets grossmehrheitlich kaum Positives abgewinnen und sehen darin keine ­Lösung für die (Finanzierungs-)Probleme des schweizerischen Gesundheitssystems. Ob die Politik zu ähn­lichen Schlüssen kommt, bleibt abzuwarten.
bkesseli[at]emh.ch