Äusserer Wohlstand, innere Armut?

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2017/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.06217
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(47):1576

Publiziert am 21.11.2017

Äusserer Wohlstand, innere Armut?

Brief zu: Bracher D. Mit vielem einverstanden, aber nicht
mit allem. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(43):1411.
Auch als Ex-Freisinnigem müsste D. Bracher – z.B. indem er die trotz eigentlich weiterhin zunehmendem Wohlstand in der Schweiz auf­fallend wenig verfügbare, ja «verarmende» Bereitschaft der Gesellschaft zu Rücksichtnahme auf Kranke sowie zu Respekt gegenüber ärztlichen Bemühungen einbezöge – bewusst werden, dass es vielleicht doch nicht das Beste wäre, sich als Mediziner gegenüber der Bevölkerung – in der inzwischen angeblich jeder 20. Erwachsene Millionär ist – für jede diagnostische und therapeutische Massnahme (wenn nicht gratis zu haben) quasi entschuldigen, jedenfalls rechtfertigen zu sollen und womöglich auch noch den «Nachweis» erbringen zu müssen, Kranken wirklich nur das Allernötigste, das absolute «Minimalprogramm» hinsichtlich ärztlicher Aufmerksamkeit, Sorgfalt, Diagnostik und Therapie ­gegönnt zu haben (und am Ende der Konsultation jederzeit beweisbar auch nicht eine einzige Minute für eine fast schon freundlich, menschlich oder den Patienten etwas zuversichtlich stimmend zu nennende Verabschiedung «vergeudet» zu haben). Fast müsste man davon ausgehen, dass solches Rechenschaft-Ablegen gegenüber einer «Wohlstands»-Bevölkerung – deren Rücksichtnahme auf einfache Gegebenheiten wie die legitimen Wünsche und Hoffnungen Kranker auf Gesundheit (dank ärztlicher Beistandleistung mit Beachtung von Sorgfaltspflicht und von eindringlichen Empfehlungen und Mahnungen Hippokrates’) gleichzeitig ebenso zunehmend prekär zu werden scheint – den Respekt vor dem Arzt und damit auch die «Compliance» betreffend seine der gesundheitlichen Erholung dienenden und diese ermöglichenden Anordnungen (damit sie gesund und einsatzfähig werden) wenig aufrechterhalten helfe.
D. Bracher, der sich einerseits für die freie Arztwahl, anderseits gerade für deren Einschränkung durch freien wirtschaftlichen Wettbewerb der Krankenkassen (Hausarzt-, Telemedizin-, Erstberatung durch Apotheker-«Modelle») ausspricht, denkt vielleicht etwas «spärlich» an die Kollegialität, indem er für Med.kolleginnen bzw. für deren Position gegenüber derzeitigen Themen im Gesundheitswesen und zum ärztlichen Stand teilweise nur «Qualifikationen» (?) aus der Geologie («Granit») und Attribute wie «un-einsichtig» oder «gehässig» übrig hat und Kollegen, die niemandem Applaus spendeten, unterstellt, sie hätten applaudiert (nämlich denjenigen, die sich aus menschlichen Gründen noch etwas Idealismus zu bewahren versuchen, also den «Uneinsichtigen»?).
Auf wessen Seite steht der Arzt? Aufseiten der Sorgfalt gegenüber den sich ihm anvertrauenden Patienten (und der «hippokratischen» Ratschläge, der «Alma mater», der wertvollen Lehrmeinungen, der «Evidence-based Medicine», der Vorsicht, niemandem, der ihn konsultiert, einen Schaden zuzufügen) – oder ist er für die Brieftasche von mehr oder weniger gutbetuchten Gesunden zuständig, die nicht wahrhaben möchten, dass in einer gesunden, vitalen Gesellschaft nicht Kranke betreffend gesundheitliche Ansprüche Rücksicht auf Gesunde, sondern diese auf erstere zu nehmen in der Lage sind, z.B. gemäss Schweizer Recht und Bundesverfassung (Die Stärke des Volks misst sich am Wohl der Schwachen).