Geschlecht in der Medizin: ein Thema mit vielen Facetten

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2017/50
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.06269
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(50):1680–1681

Affiliations
Dr. med., PD, MSc, Médecine adjointe, Policlinique Médicale Universitaire Lausanne

Publiziert am 12.12.2017

Welche Bedeutung hat das Geschlecht in der Medizin? Eine Frage, die viele Bereiche umfasst: Sie kann sich auf die Position von Frauen in medizinischen Berufen beziehen, auf frauenspezifische Krankheiten (wobei es hier weniger um die Bedeutung von Geschlechtsspezifika geht als vielmehr um Frauenmedizin, was nicht Thema dieses Artikels ist) oder auf die gesundheitlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen.
Betrachten wir zunächst das Geschlecht im Hinblick auf die Chancengleichheit in medizinischen Berufen. Der medizinische Bereich ist zunehmend weiblicher geworden: Derzeit sind 60 Prozent der Studierenden an den medizinischen Fakultäten in der Schweiz weiblich. Dies verdeutlicht, wie sich die gesellschaftlichen Normen allmählich verändert haben: In der Schweiz ist es Frauen seit Ende des 19. Jahrhunderts möglich, Medizin zu studieren – die erste Schweizer Ärztin, ­Marie Heim Vögtlin, begann ihr Studium im Jahr 1868. Heute ist dies normal und gesellschaftlich akzeptiert. Trotzdem beträgt der Frauenanteil bei Professuren an Schweizer Universitäten weniger als 20 Prozent (an medizinischen Fakultäten beträgt der Anteil sogar nur 10 bis 15 Prozent) [1]. Es handelt sich nicht um ein Pro­blem der Proportionalität, sondern ist die Folge eines Phänomens, das die Frauen daran hindert, an die Spitze der Hierarchie zu gelangen – die berühmte gläserne Decke. Dazu kommen die Glaswände, die bewirken, dass Frauen viel einfacher in Berufe oder Branchen gelenkt werden, die weniger prestigeträchtig sind und in denen kein Aufstieg möglich ist.
Der medizinische Bereich ist zunehmend weiblicher geworden: Derzeit sind 60 Prozent der Studierenden an den medizinischen Fakultäten in der Schweiz weiblich. Trotzdem beträgt der Frauenanteil bei Professuren an Schweizer Universitäten weniger als 20 ­Prozent.
Das zweite Thema sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Medizin. Die Medizin war lange Zeit androzentrisch – also nach dem jungen weissen Mann ausgerichtet. Dabei wurden andere Typen vernach­lässigt, insbesondere die Frauen. Nun weiss man, dass hinsichtlich des Kreislaufs, der Hormone und der Physiologie zwischen Männern und Frauen Unterschiede bestehen und dass es wichtig ist, diese zu berücksichtigen. Und zwar ohne Geschlechterstereotypen zu bedienen, durch die bei der Behandlung nicht gerechtfertigte Unterschiede zwischen Männern und Frauen entstehen. Ein Beispiel ist die Schmerzbehandlung: Studien haben ergeben, dass Frauen 15 Minuten länger warten, bevor sie ein Schmerzmittel erhalten, wenn sie mit Bauchschmerzen in die Notaufnahme kommen [2]. Zur Behandlung werden Frauen weniger starke Mittel verschrieben, Männer erhalten dagegen eher opioidhaltige Schmerzmittel. Umgekehrt werden Depressionen bei Männern seltener diagnostiziert – ganz dem Stereotyp entsprechend, dass Männer stark und widerstandsfähig sind. Dies hat falsche Diagnosen und eine viermal so hohe Suizidrate zur Folge [3].
Zu all diesen Themen kommt die sexuelle Belästigung hinzu, die leider auch in der medizinischen Welt vorkommt. Sie kann sehr eindeutig, aber auch in unauffälliger Form auftreten. Den gewöhnlichen Sexismus, mit seinen sexistischen Anspielungen, paternalistischen oder herablassenden Äusserungen, trifft man vor allem da an, wo es wenig Frauen gibt. Er findet oft unter dem Deckmantel des Humors statt. Glücklicherweise wird darüber heutzutage gesprochen, vor allem in den sozialen Netzwerken oder auf Websites wie «Paye ta blouse» (zu Deutsch: «Zahl deinen Kittel»), auf denen Frauen (und Männer) das herabwürdigende Verhalten gegenüber Frauen im medizinischen Umfeld anprangern.
Wie gehen wir vor? Es reicht nicht, die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu beklagen oder sie als Missstand zu bezeichnen, man muss sie korrigieren. Hierzu schlägt die Wissenschaftshistorikerin Londa Schiebinger vor, auf drei Ebenen aktiv zu werden; ganz nach dem Leitspruch: «Fix the Numbers of Women» – «Fix the Institutions» – «Fix the Knowledge» [4].
Frauen müssen nach vorne treten und es wagen, sich durchzusetzen. Mentoring- und Weiterbildungsprogramme sowie weibliche Vorbilder können dazu beitragen, dass Frauen die gläserne Decke durchbrechen. Aber leider reicht das noch nicht. Studien haben belegt, dass Frauen bei gleicher Qualifikation und sogar ohne familiäre Verantwortlichkeiten nicht die gleichen Chancen auf eine Beförderung haben wie Männer. Es muss also auf institutioneller Ebene etwas getan werden. Die unbewussten Verzerrungen bei der Rekrutierung, aufgrund deren männliche Kandidaten favorisiert werden, müssen bekämpft werden. Es muss sichergestellt werden, dass die Fakultäten den Aufstieg von Frauen in Schlüsselpositionen fördern und dass sie günstige Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie schaffen. Zudem müssen die Männer mobilisiert werden. Es muss eine ausgewogenere Aufteilung der familiären und häuslichen Aufgaben erreicht werden, und Männer, die Teilzeit arbeiten möchten, sollten dabei unterstützt werden. Kurz: Man muss versuchen, das klassische Model­l, bei dem der Mann 150 Prozent und die Frau 50 Prozent arbeitet, zu verändern.
Abschliessend sind weitere Forschungen zum Geschlechterbias im Gesundheitswesen vonnöten; es muss ermittelt werden, was biologisch (durch das Geschlecht) begründet ist und was der sozialen Ordnung (dem Gender) zuzuordnen ist. Man muss die Bedeutung des Geschlechts in der Medizin lehren und auf die Problematik des Geschlechts aufmerksam machen – in allen Disziplinen und Fachrichtungen.
Vor Kurzem hat das Weltwirtschaftsforum die Weltrangliste zur Gleichstellung von Männern und Frauen veröffentlicht. Bewertet wurden Lohnungleichheit, der Zugang zu Gesundheit und Bildung sowie die politische Beteiligung. Dem Bericht zufolge hat sich die Schweiz verschlechtert und befindet sich auf dem 21. Platz – unter anderem hinter Island, Frankreich und Nicaragua. Ausserdem würde nach Aussage des Berichts das Erreichen von Gleichstellung in einem Land ein BIP-Wachstum um hunderte Milliarden Euro ermöglichen. Wenn wir anhand eines geschlechterspezifischen Ansatzes die Behandlung verbessern und die Geschlechterungleichheiten im Gesundheitswesen – für die Patientinnen, aber auch für die weiblichen Gesundheitsfachkräfte – beseitigen würden, könnten wir nicht nur das Gesundheitssystem optimieren. Wir könnten vielleicht sogar Gewinne erwirtschaften, und vor allem könnten wir den Patienten eine bessere, gezieltere und hochwertigere Behandlung bieten.

forumsante.ch

Am Dienstag, 23. Januar, findet im Hotel Bellevue in Bern das forum­sante.ch bereits zum 19. Mal statt. Die Tagung lädt zu einer vielschichtigen Diskussion über ein aktuelles Thema: «Frauen erobern das Gesundheitswesen – was hat man(n) zu erwarten?»
Renommierte nationale und internationale Referentinnen setzen sich aus gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und ethischer Perspektive mit der Leitfrage auseinander. Diskutiert werde­n soll aber nicht nur die Gegenwart: forumsante.ch schaut immer einen Schritt voraus und bildet eine Plattform, um über konstruktive Ideen und pointierte Aussagen nachzudenken und gemeinsam über die Zukunft zu diskutieren.
Website mit vollständigem Kongressprogramm und Anmeldung: www.forumsante.ch
Carole Clair, Dr. med., PD, MSc
Médecine adjointe
Policlinique Médicale Universitaire
Rue du Bugnon 44
CH-1011 Lausanne
Carole.clair[at]hospvd.ch
1 Programme CUS 2013–2016 P-4 «Egalité des chances entre Femmes et Hommes dans les Universités/Etudes genre». https://www.­swissuniversities.ch/fr/themes/encouragement-de-la-releve/­egalite-des-chances/programme-cus-p-4/.
2 Chen EH, Shofer FS, Dean AJ, et al. Gender disparity in analgesic treatment of emergency department patients with acute abdominal pain. Acad Emerg Med. 2008;15(5):414–8.
3 Moller-Leimkuhler AM. The gender gap in suicide and premature death or: why are men so vulnerable? Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 2003;253(1):1–8.