SAMW hat Vernehmlassung eröffnet

Revidierte Richtlinien zum Umgang mit Sterben und Tod

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2017/49
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.06270
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(49):1642–1643

Affiliations
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, ehemaliger ZEK-Präsident

Publiziert am 06.12.2017

Seit dem Inkrafttreten der medizin-ethischen Richtlinien «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende» (2004) hat sich die gesellschaftliche Wahrnehmung des medizinischen Umgangs mit Sterben und Tod stark gewandelt. Vermehrt besteht das Bedürfnis, den letzten Lebensabschnitt bis hin zur Festsetzung von Zeitpunkt und Umständen des eigenen Todes selbstbestimmt zu gestalten. Dies stellt neue Anforderungen an medizinische Fachpersonen, aber auch an Pa­tienten und Angehörige. Damit die Richtlinien der SAMW weiterhin Hilfe bie-
ten können, drängte sich eine Revision auf. Die revidierten Richtlinien stehen bis 24. Februar 2018 in der Vernehmlassung.
Im Mai 2015 betraute die Zentrale Ethikkommission (ZEK) der SAMW eine Subkommission mit der Überarbeitung der Richtlinien. Deren Mitglieder bildeten ein breites Spektrum an beruflichen, kulturellen und weltanschaulichen Hintergründen ab; alle zeichneten sich aber durch hohe Dialogbereitschaft und Konsensorientierung aus. In zweieinhalbjähriger Arbeit verschaffte sich die Subkommission einen Überblick über die Thematik durch Expertenhearings und das Studium von Ergebnissen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 67 sowie der SAMW-Studie zur Haltung der Schweizer Ärzteschaft zur Suizidhilfe. Die Richtlinien wurden von Grund auf neu konzipiert, der Rohentwurf wurde ausgewählten Experten zur Stellungnahme vorgelegt und anschliessend erneut in der Subkommission ergänzt und bereinigt.
Die Richtlinien sind als Ganzes vom Leitgedanken der Palliative Care geprägt, insbesondere von der Achtung der Würde und des selbstbestimmten Willens des Pa­tienten. Im Gegensatz zur Vorgängerversion enthalten sie deshalb auch kein spezielles Kapitel zur Palliative Care. Im Übrigen bestimmten drei Grundanliegen den Duktus des Textes:
– Die Subkommission bemühte sich um eine klare, möglichst unmissverständliche Sprache. Besonderer Wert auf klare Formulierungen wurde bei Handlungen gelegt, die den Zeitpunkt des Todeseintritts beeinflussen können: Besteht die Absicht darin, diesen hinauszuschieben, soll er aufgrund des natürlichen Verlaufs oder als in Kauf genommene Nebenfolge einer Handlung akzeptiert werden, oder ist das Ziel, ihn zu beschleunigen?
– Die Achtung der Selbstbestimmung der Patientin ist bis zum Tod zu wahren. Dabei sind aber auch die Rechte von Angehörigen und medizinischen Fachpersonen mit zu berücksichtigen.
– Vulnerable Patienten müssen vor medizinischen Massnahmen, die nicht ihrem aufgeklärten, freien und wohlüberlegten Willen entsprechen, geschützt werden. Ein zunehmender, offener oder verdeckter Druck, bzw. ein «Nudging» in die Richtung, dass alte und kranke Personen freiwillig früher aus dem Leben scheiden, als von ihnen eigentlich gewünscht, muss vermieden werden.

Erweiterung des Geltungsbereiches

Wichtigste Neuerung ist die Erweiterung des Geltungsbereichs. Neu umfasst dieser nicht nur Patientinnen, bei denen der Sterbeprozess bereits eingesetzt hat, sondern auch solche, die an einer wahrscheinlich tödlich verlaufenden Krankheit leiden, sowie Patienten mit Sterbewünschen. Damit soll einerseits das frühzeitige Gespräch über Sterben und Tod und damit der mit kurativen Ansätzen überlappende Einsatz von Palliative Care gefördert werden. Andererseits wird der bisher nicht von SAMW-Richtlinien erfasste Bereich der Suizidhilfe bei Patientinnen, deren Todeseintritt noch nicht absehbar ist, ebenfalls geregelt.
Da Wertvorstellungen und Haltungen im Umgang mit Sterben und Tod in der Schweizer Bevölkerung und auch unter medizinischen Fachpersonen sehr vielfältig sind, beschränken sich die Richtlinien nicht auf einfache Handlungsanweisungen, sondern versuchen Hilfe bei der eigenverantwortlichen Erarbeitung ethischer Bewertungen zu geben. Deswegen enthalten sie auch grundsätzliche Überlegungen zu relevanten Themen, insbesondere auch zu den Zielen der Medizin. Für Entscheide über Behandlung und Betreuung wird Wert auf gemeinsame Entscheidungsfindung und Vorausplanung gelegt. Die Situation der Angehörigen und die ihnen zu bietende Unterstützung haben hohen Stellenwert.
Die Bewertung von Handlungen, die möglicherweise oder sicher den Eintritt des Todes beschleunigen, wird neu gestaltet. Zwischen Handlungen, die den allgemein anerkannten Zielen der Medizin entsprechen und deshalb zum Aufgabenbereich aller medizinischen Fachpersonen gehören, und Handlungen, die das moralische Tötungsverbot übertreten und im Schweizer Strafgesetz verboten sind, ist neu von einer Kategorie kontrovers diskutierter Handlungen die Rede. Diese enthält in erster Linie die Suizidhilfe, aber auch gewisse Formen der Unterstützung des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit. Solche Handlungen können von medizinischen Fachpersonen durchgeführt werden, wenn diese im Einzelfall zur persön­lichen Überzeugung gekommen sind, dass sie damit zum Wohl des Patienten handeln. Keinesfalls können Fachpersonen zu kontrovers diskutierten Handlungen verpflichtet werden.

Suizidhilfe und kontinuierliche ­Sedierung

Kriterium für die Zulässigkeit der Suizidhilfe im Einzelfall ist unerträgliches Leiden. Leiden ist grundsätzlich subjektiv und entzieht sich der objektiven Erfassung. Es kann jedoch bis zu einem gewissen Grad intersubjektiv nachvollzogen werden aufgrund der Einfühlung in die Schilderung der Patientin verbunden mit der Beurteilung der zum Leiden führenden Umstände. Nicht jedes Leiden kann ärztliche Suizidhilfe begründen, sondern nur Leiden, dem medizinisch fassbare Krankheitssymptome und/oder Funk­tionseinschränkungen zugrunde liegen. Nur wenn sich eine Ärztin aufgrund der Vorgeschichte und ­wiederholter Gespräche davon überzeugt hat, dass ihr Patient in diesem Sinne unerträglich leidet, darf sie ­Suizidhilfe leisten, sofern folgende weiteren Bedingungen erfüllt sind:
– andere medizinische und nichtmedizinische Optionen zur Leidenslinderung waren erfolglos oder wurden von der Patientin als nicht zumutbar abgelehnt,
– die Urteilsfähigkeit wurde sorgfältig abgeklärt, bei häufig die Urteilsfähigkeit beeinträchtigenden Zuständen (z.B. psychische Krankheit, Demenz) durch einen entsprechenden Facharzt,
– der Wunsch ist wohlerwogen, ohne äusseren Druck entstanden und dauerhaft,
– diese Voraussetzungen wurden von einer unab­hängigen Drittperson überprüft.
Da die tiefe, kontinuierliche Sedierung bis zum Tod im letzten Jahrzehnt sehr viel häufiger geworden ist, wurde diese wichtige, aber auch missbrauchsanfällige Massnahme der palliativen Medizin detailliert geregelt. Sie darf nur bei Patienten eingesetzt werden, bei denen der Sterbeprozess bereits eingesetzt hat, und muss sich in der Medikamentendosierung an den beobachteten Symptomen orientieren.
Die neuen Richtlinien fallen in eine Zeit rascher Entwicklungen und heftiger Kontroversen darüber, was von Ärztinnen und anderen medizinischen Fachpersonen im Umgang mit Sterben und Tod erwartet werden soll. Die neuen Richtlinien versuchen, alle Beteiligten – Patienten, Angehörige und medizinische Fachpersonen – vor einer Missachtung der ihrer Rolle angemessenen Selbstbestimmung zu schützen. Das Hauptanliegen eines am Patientenwohl orientierten Umgangs mit Sterben und Tod darf weder zu einer Überforderung der Angehörigen noch zu einer Gefährdung des pro­fessionellen Selbstverständnisses der medizinischen Fachpersonen führen. Bevor von der Medizin neue Aufgaben übernommen werden, ist zu prüfen, ob ihr damit nicht die Lösung von Problemen übertragen wird, die eigentlich Aufgabe anderer gesellschaftlicher Kräfte wären.
Die revidierten Richtlinien sind vom 23. November 2017 bis zum 24. Februar 2018 in der öffentlichen Vernehmlassung. Alle für die Stellungnahme relevanten Dokumente stehen auf der SAMW-Website zur Ver­fügung: samw.ch/vernehmlassung-2017-11
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