Schwierigkeiten und Unterschiede in der praktischen Umsetzung

Fürsorgerische Unterbringung in der Schweiz – Schwierigkeiten und Unterschiede in der praktischen Umsetzung

Tribüne
Ausgabe
2018/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.05935
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(16):524-526

Affiliations
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Kompetenzzentrum für Kindes- und Erwachsenenschutzrecht

Publiziert am 18.04.2018

Im Rahmen psychischer Krisen können Ausnahme­zustände auftreten, die eine unfreiwillige stationäre Unterbringung in eine geeignete Einrichtung zum Schutze der Person notwendig machen. Eine solche Fürsorgerische Unterbringung (FU) stellt einen schweren Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Person dar. Sie darf daher gemäss Art. 426 ZGB als ultima ratio nur dann angeordnet werden, wenn die Behandlung zur Abwendung der Gefährdung nicht durch andere, weniger einschneidende Massnahmen wie etwa eine ambulante Behandlung oder Betreuung sichergestellt werden kann.

Zusammenfassung

Eine Fürsorgerische Unterbringungen (FU) stellt einen schweren Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Person dar. Trotz der angestrebten Harmonisierung der rechtlichen Grundlage durch das aktuelle, zu Beginn des Jahres 2013 in Kraft getretene Kindes- und Erwachsenenschutzrecht ist aufgrund der spezifischen kantonalen Gesetzgebungen und Strukturen immer noch von beträchtlichen Unterschieden in der Handhabung der FU zwischen den Kantonen und auch zwischen einzelnen Kliniken auszugehen. Auf der Basis einer Befragung von Chefärztinnen und Chefärzten psychiatrischer Einrichtungen in der Schweiz wurden Schwierigkeiten und Unterschiede in der praktischen Umsetzung der FU zusammengetragen. Nebst Qualitätseinbussen aufgrund fehlender Weiterbildungsstandards stellen die mangelnde Verfügbarkeit und Bereitschaft von Ärztinnen und Ärzten zur Anordnung einer FU sowie die Unabhängigkeit der anordnenden Instanz ernstzunehmende Probleme dar. Hinzu kommen uneinheitliche Vorgehensweisen in Ausnahmesituationen bei unklarem Rechtsstatus der eingewiesenen Person sowie die mit bestimmten gesellschaftlichen Erwartungen einhergehende Gefahr einer Instrumentalisierung der Psychiatrie.
Angesichts der hohen Tragweite einer FU für die Freiheitsrechte der betroffenen Person, ist eine möglichst tiefe FU-Rate, auch im Sinne einer Förderung der Pa­tientenautonomie, anzustreben. Ebenfalls ist eine Harmonisierung der kantonalen Gesetzgebungen wichtig, um eine Gleichbehandlung der betroffenen Personen zu gewährleisten. Eine solche Harmonisierung wurde durch das aktuelle, zu Beginn des Jahres 2013 in Kraft getretene Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (KESR) bezweckt. Trotz der Gesetzesrevision ist aber teilweise immer noch von beträchtlichen Unterschieden in den Vorgehensweisen zwischen den Kantonen und auch zwischen einzelnen Kliniken auszugehen. Hinzu kommen Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen, Regulierungslücken, sowie rechtliche, ethische und gesellschaftliche Aspekte, die im Zusammenhang mit der Fürsorgerischen Unterbringung kritisch zu diskutieren sind.
Basierend auf einem Austausch mit und einer Umfrage unter Mitgliedern der Schweizerischen Vereinigung psychiatrischer Chefärztinnen und Chefärzte (SVPC) werden die folgenden Problembereiche zur Diskussion gestellt.1

Qualitätseinbussen aufgrund fehlender Weiterbildungsstandards

Die Zuständigkeiten für die Anordnung einer FU sind im jeweiligen kantonalen Recht zum KESR geregelt. Nebst der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) können bestimmte Ärztinnen und Ärzte dazu berechtigt sein. Je nach gesetzlicher Bestimmung fallen die Anforderungen an die Qualifikation und Routine der anordnenden Instanz unterschiedlich aus. In einigen Kantonen dürfen alle Ärztinnen und Ärzte mit einer Bewilligung zur selbstständigen Berufsausübung, unabhängig von ihrer Spezialisierung, eine Klinikeinweisung per FU anordnen, in anderen Kantonen kommen hierfür nur bestimmte Fach-, Notfall- oder Amtsärztinnen und -ärzte in Frage. Es ist naheliegend, dass aufgrund der unterschiedlichen Qualifikationen und Erfahrungen Qualitätsunterschiede in den Anordnungen vorkommen, wobei Qualitätseinbussen immer wieder festgestellt werden, entweder weil nicht ausreichende psychiatrische Expertise oder zu geringe Kenntnisse der gesetzlichen Voraussetzungen bestehen (vgl. [1, 2]). Eine restriktivere Handhabung der Zuständigkeiten bzw. eine obligatorische Zertifizierung könnte zu einem einheitlicheren Vorgehen führen; dies würde die Definition eines Mindeststandards an Kenntnissen und Kompetenzen für die Anordnung ­einer FU erfordern.

Mangelnde Verfügbarkeit und Bereitschaft von Ärztinnen und Ärzten

Gemäss Art. 427 ZGB dürfen freiwillig eingetretene Personen für maximal 72 Stunden gegen ihren Willen in der Klinik zurückbehalten werden, wenn eine Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Eine länger andauernde Unterbringung gegen den Willen der Person ist nur dann zulässig, wenn ein vollstreckbarer Unterbringungsentscheid vor Ablauf der Frist vorliegt. Das Aufgebot einer geeigneten Fachperson zur Anordnung einer FU nach Rückbehalt stellt an gewissen Standorten jedoch ein ernst zu nehmendes Problem dar: Aufgrund einer mangelnden Verfügbarkeit oder Bereitschaft von Fachpersonen liegt nach Ablauf der Frist teils kein Unterbringungsentscheid vor. Die Behandlerinnen und Behandler kommen dadurch in schwierige ethische Dilemmata, in denen ihre Fürsorgepflicht mit der Pflicht zur Wahrung der Freiheitsrechte der betroffenen Person in Konflikt gerät. Die praktische Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen im Zusammenhang mit Zurückbehaltungen ist also nicht überall reibungslos gewährleistet. Diesbezüglich sind quali­fizierte Fachpersonen erforderlich, die innerhalb der gesetzlichen Frist verfügbar sind.

Gefährdung der Unabhängigkeit 
der anordnenden Instanz

An die Verfügbarkeit gekoppelt ist die Frage der Unabhängigkeit zwischen der anordnenden und der aufneh­menden Instanz, insbesondere im Zusammenhang mit FU-Anordnungen nach Rückbehalt. Wenn externe Ärztinnen und Ärzte schwer aufzubieten sind und die Behörde nicht zur Verfügung steht, wird mitunter aus Not auf Fachpersonen der eigenen Einrichtung oder ­einer anderen Abteilung zurückgegriffen. Dies betrifft vor allem auch abgelegene Regionen, wie z.B. im Kanton Graubünden, wo durch das Aufgebot einer externen Fachperson mit erheblichen Verzögerungen zu rechnen ist und dadurch eine adäquate Behandlung erschwert oder verunmöglicht wird. Die Gefährdung der Unabhängigkeit ist zudem bei grösseren Institutionen mit verschiedenen Standorten, Kliniken und externen Diensten ein Problem. Es fehlt den Involvierten oft das Bewusstsein, dass es sich um eine Zuweisung in die ­eigene Institution handelt. Damit verbunden ist die Frage, nach welchen Kriterien man die Unabhängigkeit definiert.
Aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von geeignetem Personal zur Anordnung einer FU bestehen zwischen den Behörden und den Kliniken teilweise auch Vereinbarungen, die besagen, dass im Falle von Engpässen FU-Anordnungen durch klinikinterne, aber nicht direkt in die stationäre Behandlung involvierte Ärztinnen und Ärzte möglich sind. Solche und ähnliche Handhabungen sind für die Kliniken nicht unproblematisch und eine schwere Belastung für die Klinikärztinnen und -ärzte. Die Gefahr einer Befangenheit der anordnenden Ärztinnen und Ärzte ist hoch. Gerade bei stark wertgeleiteten Entscheidungen und unter Zeitdruck bzw. bei eingeschränkten Informationen fällt die Infragestellung der Einschätzung einer Kollegin oder eines Kollegen nicht leicht, umso mehr, wenn es sich um eine Person derselben Institution handelt. Nebst einer Reduktion der Belastung für die Ärzteschaft ist es wichtig, dass das Recht der betroffenen Person auf eine Beurteilung durch eine unabhängige Zweitinstanz geschützt wird, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Sicherstellung der Unabhängigkeit der ­anordnenden Instanz und die Gewährleistung einer adäquaten Behandlung in Konflikt geraten können und in diesem Fall ein sorgfältiges Abwägen notwendig machen.

Übernahme einer hoheitlichen Aufgabe durch die Ärzteschaft

Es ist ferner zu beachten, dass die Fachperson mit der Anordnung einer FU eine hoheitliche Aufgabe übernimmt: die Ärztin oder der Arzt schränkt die Freiheitsrechte einer Person ein. Dies kann mit der Etablierung einer therapeutischen Allianz im Konflikt stehen, was sich wiederum ungünstig auf den Behandlungserfolg auswirken kann. Es wäre zu diskutieren, inwieweit die Ärzteschaft für diese Aufgabe vorrangig zuständig sein soll und möchte. Obwohl die FU gemäss ZGB eine behördliche Massnahme darstellt, ist die KESB derzeit in der Mehrzahl der Fälle überhaupt nicht oder dann relativ spät involviert, spätestens nach 6 Wochen bei der behördlichen Überprüfung der FU. Im internationalen Vergleich ist das eine lange Zeitspanne. Eine früh­zeitige juristische Überprüfung der Rechtmässigkeit einer FU unter Einbezug psychiatrischer Expertise würde die Doppelrolle der Ärzteschaft entflechten, die therapeutische Beziehung entlasten und könnte zur Förderung der Autonomie der Patientinnen und Pa­tienten beitragen.

Uneinheitliche Vorgehensweisen bei Fällen mit unklarem Rechtsstatus

Klärungsbedarf besteht auch im Hinblick auf Ausnahmesituationen, in denen der Rechtsstatus der einge­wiesenen Person bei Eintritt unklar ist. Es kommt nicht selten vor, dass Personen, die als FU-Patientin oder FU-Patient angemeldet sind, ohne schriftliche FU-Anordnung in die Klinik kommen. Solche Personen werden je nach Klinik formal entweder sofort als regulärer FU-Fall aufgenommen oder ohne Aufnahme zunächst zurückbehalten bis eine schriftliche FU-Anordnung vorliegt. Ebenfalls kommt es relativ häufig vor, dass Personen ohne Widerstand, aber mit fehlender Urteilsfähigkeit in die Klinik eingewiesen werden, ohne dass eine FU-Anordnung vorliegt. In diesen Fällen wird sehr variabel vorgegangen. So kommt es unter anderem zu FU-Anordnungen vor Eintritt, regulären Aufnahmen als freiwilliger Patient oder zu Unterzeichnungen des Freiwilligenscheins durch die Angehörigen. Die Vorgehensweisen sind teilweise in der Gesetzgebung so nicht vorgesehen. Eine Vereinheitlichung der Handhabungen, die sich auf eine klare Rechtsgrundlage abstützen, wäre wichtig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Behandlung im Rahmen einer FU den Vorteil einer höheren Transparenz bietet, da eine FU-Anordnung die Möglichkeit zum Rekurs und damit zum Beizug einer unabhängigen Beurteilungsinstanz beinhaltet.

Zählung in der Statistik

Die eingeschränkte Vergleichbarkeit der FU-Statistiken aufgrund unvollständiger und verzerrter Daten ist ­bekannt (vgl. [3, 4]). Für eine Verbesserung der Datenqualität sind nebst den genannten Vereinheitlichungen zusätzliche Abstimmungen notwendig, beispielsweise mit Blick auf FU-Fälle, die innerhalb von 24 Stunden wieder entlassen werden. Nicht überall fliessen diese Fälle in die Psychiatrie-Zusatzdaten des Bundesamtes für Statistik ein. Des Weiteren wäre eine explizite und separate Erfassung von Unterbringungen im Verlauf resp. nach Zurückbehaltungen für eine vollständige ­Datenerfassung wichtig.

Gesellschaftliche Haltung und Instrumentalisierung der Psychiatrie

Nicht zuletzt geht es bei der Fürsorgerischen Unterbringung auch um Haltungsfragen und gesellschaftliche Erwartungen an die Psychiatrie, mit denen sich die anordnende Fachperson in der Untersuchungssituation unmittelbar konfrontiert sieht. Eine problematische Tendenz zur «Psychiatrisierung» gesellschaftlicher Probleme bis hin zur Instrumentalisierung der Psychiatrie ist immer wieder wahrnehmbar. So kommt es teilweise zu Unterbringungen von Personen, für die eine psychiatrische Klinik nicht die geeignete Einrichtung darstellt, da es sich primär um soziale oder somatische Probleme handelt, die in einem anderen Rahmen wesentlich besser zu lösen wären. Die Unterbringung erfolgt in diesen Fällen mitunter jedoch gleichwohl zunächst in der Psych­iatrie, da diese als primäre Institution für unfreiwillige Behandlung wahrgenommen wird. In diesem Zusammenhang können auch ökonomische Aspekte eine zentrale Rolle spielen. Es ist ein nachhaltiger gesellschaftlicher Diskurs notwendig, um eine gemeinsame Haltung der politischen und medizinischen Akteure ­sowie der Vertreterinnen und Vertreter der bereits mit FU-Zuweisungen konfrontierten Personen zu entwickeln und Klarheit über die entsprechenden Bedürfnisse zu bekommen.
Weitere Autoren des Artikels: Patrik Benz-Gartenmann, Dr. med; Lorenza Bolzani, Dr. med; Benjamin Dubno, Dr. med; Martin Hatzinger, Prof. Dr. med; Urs Hepp, Prof. Dr. med; Uwe Herwig, Prof. Dr. med; Patrik Hochstrasser, Dr. med; Wolfram Kawohl, Prof. Dr. med; Georges Klein, Dr. med; Tim Klose, Dr. med; Julius Kurmann, Dr. med; Robert Maier, Dr. med; Thomas Maier, PD Dr. med; Beat Nick, Dr. med; Thomas Reisch, Prof. Dr. med; Florian Riese, Dr. med; Axel Ropohl, Dr. med; Egemen Savaskan, Prof. Dr. med; Andres Schneeberger, Dr. med; Erich Seifritz, Prof. Dr. med; Rafael Traber, Dr. med.
Wir danken der Schweizerischen Vereinigung der psychiatrischen Chefärztinnen und Chefärzte (SVPC) für die Zusammenarbeit und die Möglichkeit der Präsentation und Diskussion der Ergebnisse am 24. März 2017 an ihrer Jahresversammlung in der Klinik Zugersee.
PD Dr. med. Matthias Jäger
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Kompetenzzentrum KESR
Tel. +41 (0)44 384 26 37
Fax. +41 (0)44 383 44 56
matthias.jaeger[at]puk.zh.ch
1 Jäger M, Ospelt I, Kawohl W, Theodoridou A, Rössler W, Hoff P. Qualität unfreiwilliger Klinikeinweisungen in der Schweiz.Praxis. 2014;103:631–9.
2 Kieber-Ospelt I, Theodoridou A, Hoff P, Kawohl W, Seifritz E, Jäger M. Quality Criteria for Involuntary Psychiatric Admissions – before and after the introduction to the Law Governing Legal Protection of Minors and Adults (KESR).BMC Psychiatry. 2016;16:291. DOI 10.1186/s12888-016-0998-z.
3 Schuler D, Tuch A, Buscher N, Camenzind P. Psychische Gesundheit in der Schweiz. Monitoring 2016 (Obsan Bericht 72). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium; 2016.
4 Gassmann J. Wirksamkeit des Rechtsschutzes bei psychiatrischen Zwangseinweisungen in der Schweiz. Erstellt im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit. Bern: Bundesamt für Gesundheit; 2011.