Lean Hospital – «Toolbox» oder Mobilisierung von Reflexivität?

Tribüne
Ausgabe
2018/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06361
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(05):159-161

Affiliations
a Universität St. Gallen, Institut für Systemisches Management und Public Governance; b Chefarzt Zentrale Notfallstation, Stv. Leiter Unfallchirurgie, Kantonsspital Graubünden, Chur

Publiziert am 31.01.2018

Spitäler erleben herausfordernde Zeiten. Kosten- und Wettbewerbsdruck nehmen spürbar zu. Gleichzeitig zieht die weiterhin zunehmende Spezialisierung mit Blick auf eine wirklich patientenzentrierte Wertschöpfung einen steigenden Koordinations- und Abstimmungsbedarf nach sich. Wie auch in der SAEZ kürzlich diskutiert [1], gilt Lean Hospital als eine bewährte Vorgehensweise, die Wertschöpfungsprozesse eines Spitals mit einem klaren Patientenfokus systematisch und nachhaltig zu optimieren [2].
In diesem Beitrag skizzieren wir die Kerngedanken von Lean Hospital und loten zwei Voraussetzungen für seine Verankerung in einem Spital aus. Unsere Überlegungen beruhen auf einer langfristig angelegten empirischen Fallstudie zur Einführung von Lean Hospital in einem Schweizer Zentrumsspital. Eine wesentliche Erkenntnis daraus lautet, Lean Hospital als Entwicklungsprozess eines Repertoires von reflexiven Gestaltungspraktiken zu verstehen. Als solcher dient Lean Hospital dazu, die eingespielten Abläufe im Behandlungsalltag gemeinsam kritisch-konstruktiv zu hinterfragen – ausgerichtet auf die Kernwertschöpfung im Spital: die Patientenprozesse.

Résumé

Depuis 2012, les initiatives lean, entre autres le lean hospital, la lean production ou le lean management, sont aussi de plus en plus présentes dans les hôpitaux suisses. Ces initiatives stratégiques servent à faire évoluer en profondeur la plus-value hospitalière établie, suivant les principes lean. Le présent article examine les deux conditions de réussite du lean hospital, en argumentant que l’idée va bien au-delà de l’introduction d’une «boîte à ­outils» destinée à optimiser la création de valeur au sein de l’hôpital. Le lean hospital doit plutôt être considéré comme la mise au point d’un répertoire de pratiques de configuration réflexives, destinées d’une part à avoir une approche critique sur la création de plus-value (notion historiquement développée et fortement basée sur la répartition des tâches), ainsi que sur la pratique décisionnelle des hôpitaux qui en découle, d’autre part à changer de configuration. Perfectionner cette routine tout en se concentrant sur les patients et en écoutant les collaborateurs exige de pouvoir remettre en question les certitudes acquises au niveau de l’encadrement et les habi­tudes de travail adoptées. A partir de là, tous les participants pourront se retrouver dans un effort expérimental commun pour essayer et étudier au quotidien de nouvelles formes de gestion des tâches et de prise de décision, qui soient coopératives et centrées sur le patient.
Diese Reflexion setzt die Entwicklung reflexionsfreundlicher kommunikativer Austauschmöglichkeiten voraus, die wir im folgenden «reflexive Kommunikationsplattformen» oder «Plattformen» nennen. Die Etablierung und Orchestrierung dieser Plattformen ist eine Kernaufgabe von Management. Denn mit der reflexiven Weiterentwicklung der Wertschöpfung stellen sich auch Fragen zur Abstimmung zwischen den Beteiligten und zur eigenen Entscheidungspraxis.

Lean Hospital im Spital als Werkzeugkasten zur Optimierung der Wertschöpfung?

Lean Hospital basiert (unter dem Stichwort Lean Production) auf dem Toyota-Produktionssystem [3]. Die damit realisierten Qualitäts-, Produktivitäts- und Wettbewerbsvorteile haben zu einer starken Verbreitung im industriellen Sektor geführt. Seit einiger Zeit diffundiert Lean Production auch in das Gesundheitswesen, vor allem in den USA. Den Kern bildet das Prinzip, alle für die angestrebte patientenzentrierte Wertschöpfung notwendigen Aktivitäten so aufeinander abzustimmen, dass nicht-wertschöpfende Elemente möglichst vermieden werden. Es geht beispielsweise darum, Wartezeiten, unnötige Wege oder doppelt erhobene Daten zu ver­meiden. Lean Hospital zielt auf verlässlichere Prozesse, ­geringere Fehlerquoten, zufriedenere Mitarbeitende, kürzere Aufenthalte und mehr Zeit der Health Pro­fes­sio­nals für Patientinnen und Patienten. Dazu dienen zum einen verschiedene konzeptionelle Gestaltungsprinzipien wie z.B. das Konzept des gleichmässigen ­Patientenflusses oder eine Kanban-Logistik zur verbrauchsorientierten Materialbereitstellung. Zum an­de­ren kommen technische Hilfsmittel wie ein Pflege-Wagen mit Laptop zur zeitverzugslosen Dokumentation zum Einsatz. Gleichzeitig soll Lean Hospital die Koordination der arbeitsteiligen Wertschöpfung im Arbeits­alltag und deren kontinuierliche Verbesserung unterstützen. Die Literatur fokussiert dabei vornehmlich auf effizienten Ressourceneinsatz bei gleichzeitiger Qualitätssteigerung [4].
Mit Bezug auf den Ursprung von Lean Hospital wird bisweilen fälschlicherweise angenommen, man müsse die Patientenbehandlung ähnlich organisieren wie die Produktion eines Autos – so die Kritik von Spitalmitarbeitenden. Ein Schweizer Spital könne aus kulturellen Gründen auch nicht wie ein amerikanisches organisiert werden.
Lean-Prinzipien eignen sich aber nicht nur für die Optimierung industrieller Massenproduktion. Aufgrund ihrer Prozessperspektive eignen sich Lean-Prinzipien auch zur fortlaufenden Weiterentwicklung der kom­plexen Wertschöpfung in einem Spital. Diese Weiterentwicklung erfordert aber eine sorgfältige, gemeinsame Reflexion der etablierten Behandlungsprozesse. Deshalb schlagen wir vor, Lean Hospital als Entwicklung eines Repertoires an reflexiven Gestaltungspraktiken anzusehen [5].
Reflexive Gestaltungspraktiken sind gemeinschaftlich wiederholt durchgeführte Kommunikationsaktivitäten, die auf strukturierten Kommunikationsplattformen wie Meetings oder Gesprächen stattfinden und sich anhand ihres Themenfokus, der Beteiligten und ihres zeitlichen Rhythmus unterscheiden. Über ­Plattformen organisierte reflexive Gestaltungspraktiken dienen der systematischen und kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit der bestehenden Wertschöpfung. Unter Wertschöpfung verstehen wir dabei sowohl den Wertschöpfungsprozess, d.h. das Zusammenspiel von Betreuungsaktivitäten und Behandlungsinterventionen, als auch deren angestrebte positive Wirkung bei Patienten.
Lean Hospital kann nur dann nachhaltige Wirksamkeit entfalten, wenn es gelingt, neuartige Formen des kooperativen Gestaltens und Optimierens der arbeitsteiligen Wertschöpfung zu etablieren. Dies wiederum erfordert eine Weiterentwicklung der Management-Praxis, d.h. des Nachdenkens über die Art und Weise, wie Entscheidungen in ihrem Zusammenspiel typischerweise getroffen werden. Letzteres droht auf der Strecke zu ­bleiben, sobald Lean Hospital lediglich als räumlich, technisch und instrumentell ausgerichtetes Konzept zur Identifikation und Reduktion von nicht-wertschöp­fenden Aktivitäten verstanden wird.
Will man beispielsweise Lean Hospital auf einer Station einführen, dann finden nach einer anfänglichen Klärung der Grundidee sogenannte Gemba-Walks statt. Bei einem Gemba-Walk beobachten Kolleginnen anderer Bereiche den Arbeitsalltag der zu optimierenden Station. Diese Aussenperspektive der Kollegen hilft, ­Verschwendungen und Optimierungsmöglichkeiten zu identifizieren, die für die Mitarbeitenden vor Ort selbstverständlich und daher kaum mehr wahrnehmbar sind. Der Fokus liegt dabei weniger auf einzelnen medizinisch-pflegerischen Tätigkeiten, sondern vor allem auf Arbeitsabläufen, Schnittstellen, Kooperations- und Entscheidungsmustern: Welche Wege werden zurückgelegt, wie werden Übergaben koordiniert, wie erfolgen Einsatzplanungen und Priorisierungen, wo und wie findet interprofessioneller Austausch statt?
Die anschliessend in Umsetzungsworkshops zusammengetragenen Rückmeldungen unterstützen die Stationsmitarbeitenden, ihre vertrauten Arbeitsabläufe aus einem neuartigen Blickwinkel zu betrachten und auf dieser Grundlage Verbesserungsmöglichkeiten zu identifizieren. Jede Verbesserungsmöglichkeit stellt allerdings eine Entscheidungsnotwendigkeit dar: Was soll umgesetzt werden? Wie, wann und durch wen soll es umgesetzt werden? Welche Ressourcen sind hierfür einzusetzen? Damit ist die Entscheidungspraxis ge­fordert: Wer darf entscheiden, wie soll entschieden werden, wie soll mit den erzielten Wirkungen verfahren werden, die sich dabei für vor- und nachgelagerte ­Bereiche ergeben? Und welche Implikationen hat die Realisation der Verbesserungsmöglichkeiten auf die etablierte interprofessionelle Zusammenarbeit?
In solchen Umsetzungsworkshops muss daher nicht nur das räumliche und zeitliche Zusammenspiel der unmittelbaren wertschöpfenden Behandlungsaktivitäten (Diagnose, Behandlung, Pflege, Therapie) sorgfältig bedacht werden, sondern auch die Bearbeitung der dabei auftretenden Entscheidungsnotwendigkeiten. Im Kern stehen somit sowohl die eigentlichen Wertschöpfungsaktivitäten im Dienste von Patientinnen als auch die hierzu erforderliche Entscheidungspraxis.
Wie berührt die Einführung von Lean Hospital den unmittelbaren Arbeitsalltag? Neu finden auf den Stationen zum Beispiel täglich sogenannte Huddle Meetings statt. Dabei tauschen sich Mitarbeitende zum laufenden Betrieb, zu besonderen Herausforderungen, Engpässen oder zu Unerwartetem aus. Solche Huddle ­Meetings unterstützen nicht nur die koordinative Zusammenarbeit im Team, sondern auch die Identifikation von konkreten und rasch realisierbaren Verbesserungen (nach dem zentralen Lean-Prinzip des Kaizen zur kontinuierlichen Verbesserung).
Gemba-Walks und Huddle Meetings beruhen auf der Mobilisierung von Reflexivität und Erfahrung derjenigen, die unmittelbare Wertschöpfung am Patienten erbringen. Lean Hospital ist somit kein elitäres, Top-down getriebenes Optimierungsverfahren. Vielmehr ist es ein Konzept, das mit grossem Respekt die Erfahrung der ­unmittelbaren Leistungserbringer ernst nimmt. Diese Erfahrung kann allerdings nur dann genutzt werden, wenn die an der Wertschöpfung Beteiligten ermächtigt werden, rasch die für erkannte Verbesserungen erforderlichen Entscheidungen zu treffen. Dies ist aber kaum kompatibel mit einer gewachsenen Entscheidungspraxis, die sich eher an personenzentrierten und voneinander isolierten Professionshierarchien orientiert.
Abbildung 1: Perspektivenwechsel (eigene Darstellung).

Erfolgsvoraussetzungen für die nach­haltige Einführung von Lean Hospital

Um Lean Hospital wirkungsvoll umzusetzen, braucht es deshalb – neben der Bereitstellung von Zeit und Ressourcen – ein gezieltes Arbeiten an zwei Voraussetzungen:
Erstens ist es nötig, dass sich die Beteiligten einen Gesamtüberblick über die arbeitsteilige Wertschöpfung erarbeiten. Dazu gehört auch eine Klärung, was aus Sicht der Beteiligten den Erfolg ihrer gemeinsamen Arbeit für die Patientinnen ausmacht und wie zielführend miteinander zusammengearbeitet werden soll [6]. Solche Klärungen sind in der Expertenorganisation Spital mit ihren relativ autonomen und spezialisierten Akteuren anspruchsvoll. Es geht dabei nicht nur darum, heterogene Sichtweisen und Interessen aufeinander abzustimmen. Gleichzeitig beinhaltet diese Klärung einen Perspektivenwechsel (siehe [1]) von individualisierten Einzelaktivitäten an vielen Patienten (siehe «Perspektive der gelebten Alltagspraxis» in Abb. 1) zu einer patientenbezogenen Sichtweise des gesamten Behandlungsprozesses (siehe «Perspektive Lean Hospital» in Abb. 1).
Zweitens fusst Lean Hospital auf einer professionsübergreifend reflexionsfreundlichen Praxis der Führung und Zusammenarbeit. Sie zeigt sich daran, dass auch die gelebte Entscheidungspraxis immer wieder hinterfragt werden kann. Dazu stehen gerade bei vollem Betrieb oft kaum Zeit und kommunikative Plattformen zur Verfügung. Zudem prägt das sogenannte Gärtchendenken den Spitalalltag. Ein Chefarzt konstatiert: «Die Gesamtsicht für den Organismus Spital fehlt». Lässt sich das Gärtchendenken mit Lean Hospital nicht überwinden, «dann fühlt man sich vielleicht in seiner Inselumgebung wohl, aber sobald es zu einer Berührung mit einem anderen Bereich kommt, wird es schwierig», stellt eine Pflegefachfrau fest. Die Einführung von Lean Hospital kann dann in eine «Lean Station» oder «Lean Profession» statt ein «Lean Hospital» münden, d.h. die Verbesserungsanstrengungen drohen an den Abteilungs- und Professionsgrenzen aufzulaufen, ohne ihr Potential für eine patientenzentrierte Optimierung des gesamten Behandlungsprozesses entfalten zu können.
Lean Hospital erfordert also die Bereitschaft, das eta­blierte Gärtchendenken zu überwinden, gemeinsam geteilte Perspektiven auf die bereichs- und professionsübergreifende Wertschöpfung zu gewinnen und reflexionsfreundlichere Formen der Führung und Zusammenarbeit zu entwickeln.
Eine reflexionsfreundliche Praxis von Führung und Zusammenarbeit zeigt sich in sorgfältig strukturierten Austauschmöglichkeiten der Beteiligten. Diese bilden eine zentrale Voraussetzung, um die vielfältigen ­kommunikativen, räumlichen und technologischen Voraussetzungen der täglichen Arbeit sowie die etablierte routinisierte Form der abteilungs- und professionsübergreifenden Zusammenarbeit über Schnittstellen hinweg überdenken und weiterentwickeln zu können. Im Fokus steht dabei deren Wirkung auf die erlebbare Wertschöpfung an Patientinnen und Patienten.
Wie eine solche gemeinschaftliche Reflexionspraxis im Dienste einer patientenzentrierten Wertschöpfung aufgebaut werden kann, ist das Thema von zwei weiteren Beiträgen, welche noch in diesem Jahr in der SÄZ veröffentlicht werden. Dabei haben die Beteiligten Lean Hospital als Opportunität zur kontinuierlichen Reflexion des eigenen Arbeitsalltags und zur professionellen Weiterentwicklung ihrer Station gestaltet.
Dr. Simone Gutzan
Universität St. Gallen
Institut für Systemisches Management und
Public Governance
Forschungszentrum
Organization Studies
Dufourstrasse 40a
CH-9000 St. Gallen
1 Sax A. Wo die Standardisierung aufhört, fängt das Denken an. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(6):191–4.
2 Scholz A. Prozessverbesserung mit Change Management und Kommunikationstraining. In Die Lean-Methode im KrankenhausWiesbaden: Springer Fachmedien. 2014;(113–28).
3 Womack JP, Jones DT, Roos D. Machine that changed the world. New York: Simon & Schuster Inc. 1990.
4 Joosten T, Bongers I, & Janssen R. Application of lean thinking to health care: issues and observations. International Journal for Quality in Health Care; 2009;21(5):341–7.
5 Rüegg-Stürm J, Grand S. Das St. Galler Management-Modell. 3, überarbeitete und weiterentwickelte Auflage. Bern: Haupt; 2017.
6 Tuckermann H, Rüegg-Stürm J, Mitterlechner M. Zur Unmöglichkeit des Managements von Spitälern: Die Paradoxie von Management. Schweiz Ärztezeitung. 2014;95(16–17):662–5.