Die FMH zur Dämpfung des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen

FMH
Ausgabe
2018/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06480
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(08):06480

Affiliations
a Dr. phil., persönliche wissenschaftliche Mitarbeiterin des Präsidenten; b Kommunikationsspezialistin, Abteilung Kommunikation der FMH;
c Dr. med., Präsident der FMH

Publiziert am 21.02.2018

Um die allgemeine Zugänglichkeit einer qualitativ hochstehenden Gesundheitsversorgung auch in Zukunft für die Patienten zu bewahren, gilt es die bestmög­liche Effizienz der eingesetzten Ressourcen zu gewährleisten. Dieser Beitrag zeigt auf, welches Effizienzpotential aus Perspektive der Ärzteschaft realisiert werden könnte.
Die monatlichen Ausgaben des Durchschnittshaushalts für die Krankenkassenprämien sind zwischen 2006 und 2014 um 100 Franken gestiegen. Auch wenn die Prämien damit weniger wuchsen als die Steuerlast (+370 CHF), die Konsumausgaben (+325 CHF) oder der monatliche Sparbetrag (+715 CHF) [1], erzeugen sie doch in Haushalten abseits dieses Durchschnitts spürbare Belastungen. Da die demographische Entwicklung und der medizinische Fortschritt zunehmende Ressourcen für unsere Gesundheitsversorgung erfordern, müssen die Mittel so effizient wie möglich eingesetzt werden.

Zusammenfassung

Um die allgemeine Zugänglichkeit einer qualitativ hochstehenden Gesundheitsversorgung zu bewahren, müssen Ressourcen effizient eingesetzt werden. Aus Perspektive der Ärzteschaft liegt noch grosses ungenutztes Effi­zienzpotential insbesondere in den Strukturen und bei der Finanzierung unseres Gesundheitswesens. Wichtige Ansatzpunkte bieten hier die Schaffung überkantonaler Spitalregionen und die Auflösung der Governance-Konflikte der Kantone sowie eine stärkere Nutzenperspektive im KVG. Eine einheitliche Finanzierung stationärer und ambulanter Leistungen ist unverzichtbar, um die Strategie «ambulant vor stationär» ohne Prämienschub umsetzen zu können und die Attraktivität integrierter Versorgungsmodelle zu steigern. Auch manche Qualitätsmassnahmen bieten ein Potential, Gesundheitsleistungen zu reduzieren und gleichzeitig die Versorgung zu verbessern. Neben der Reduktion des grossen Administrationsaufwands sind auch Tarifierung und Zulassung zentral. Alle Vorschläge wären ohne Einschränkungen der Versorgungsqualität und der Wahlfreiheit der Patienten realisierbar. Darum verbieten sich Massnahmen, die zur Einschränkung der freien Arztwahl oder verdeckter Rationierung führen.
Die Verantwortung der Ärzteschaft gilt nicht nur dem einzelnen Patienten von heute, sondern auch einem allgemein zugänglichen, qualitativ hochstehenden und finanzierbaren Gesundheitswesen von morgen. Weil Ärztinnen und Ärzte durch ihre tägliche Arbeit mit unserem Gesundheitswesen bestens vertraut sind, werden nachstehend einige Vorschläge zur Kostendämpfung aufgelistet, die auf Beschlüssen der verschiedenen FMH-Gremien basieren. Dass sich diese ­Lösungsansätze nun auch teilweise im Bericht der vom EDI eingesetzten Expertengruppe [2] wiederfinden, ist erfreulich – auch wenn die Vorstellungen über ihre konkrete Umsetzung teilweise deutlich auseinandergehen.

Das Gesamtsystem optimieren

Die Schweiz leistet sich für eine Bevölkerung von 8 Millionen Menschen 26 kleinräumige Gesundheitssysteme. Die Schaffung von fünf bis sieben überkanto­nalen Spitalregionen könnte Effizienzgewinne erzielen, Überkapazitäten vermeiden und gleichzeitig die Versorgungsqualität fördern. Ebenfalls muss die Mehrfachrolle der Kantone entflochten werden, deren Vielzahl von Interessen als Planer und Eigentümer von Spitälern, als Auftraggeber von Leistungen, als Finanzierer stationärer Leistungen sowie als Regulatoren der Spitallisten und Tarife zu Ineffizienz und Wettbewerbsverzerrungen führt. Die Kantone sollten sich daher ­zumindest aus der Spital-Eigentümerschaft zurück­ziehen.
Weiteres Optimierungspotential böte eine Erweiterung der reinen Kostenperspektive unseres Kran­kenversicherungsgesetzes (KVG) hin zu einer Gesamtkostensicht, die auch den Nutzen von Behandlungen abbildet. Würden ähnlich dem Unfallversicherungsgesetz (UVG) nicht nur die vergleichsweise überschau­baren Heilkosten übernommen, sondern auch die Kosten für Arbeitsausfälle und Renten, lohnten sich die Investitionen in erfolgreiche Therapien nicht nur für die Patienten, sondern auch für den Kostenträger – und wirkten sich volkswirtschaftlich positiv aus.

Sparpotential durch einheitliche ­Finanzierung realisieren

Nur ein Wechsel zu einer einheitlichen Finanzierung ­ambulanter und stationärer Leistungen ermöglicht die optimale Realisierung des wichtigsten Effizienzpotentials der Gesundheitsversorgung: Allein die Verlagerung stationärer Leistungen in den ambulanten Bereich birgt ein jährliches Sparpotential von etwa einer Mil­liarde Franken [3]. Damit aber der Ersatz überwiegend steuerfinanzierter stationärer Behandlungen durch ausschliesslich prämienfinanzierte ambulante Behandlungen keinen Prämienschub auslöst, müssen sta­tio­näre und ambulante Leistungen neu einheitlich finanziert werden. So liesse sich auch das Potential der integrierten Versorgung ausschöpfen. Vor allem im Bereich der nicht-übertragbaren Krankheiten, die 80% der Gesundheitskosten verursachen [4], zeigten freiwillige Teilnahmen an integrierten Versorgungsmodellen grosse jährliche Spareffekte [5]. Dass die durch vermiedene Spitalaufenthalte erzielten Einsparungen bislang unzureichend an die Versicherten weitergegeben werden können, macht diese Modelle heute weniger attraktiv für Versicherte und auch für Krankenkassen. Aktuell treibt eine Krankenkasse, die konsequent auf günstigere, ambulante Behandlungen setzt, ihre Prämien in die Höhe. In der Folge bleibt derzeit ein Effi­zienzpotential von jährlich bis zu zwei Milliarden Franken ungenutzt [6].

In Qualität investieren

Die Qualität im Gesundheitswesen ist eine Kernaufgabe der Ärzteschaft und geniesst sowohl im ärztlichen ­Arbeitsalltag als auch in der Berufspolitik hohe Priorität. Die zentralen Pfeiler der Qualitätsarbeit bilden dabei Transparenz, Verbindlichkeit und Nachhaltigkeit [7]. Dass qualitative Verbesserungen mit Einsparungen Hand in Hand gehen können, zeigen Initiativen wie smarter medicine: Weniger medizinische Massnahmen können für einen Patienten die beste Wahl sein und ihm Belastungen ersparen [8]. Hier obliegt der Ärzteschaft die Verantwortung, evidenzbasiert und partnerschaftlich mit den Patienten Entscheidungen zu treffen. Eine Steigerung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung würde kostendämpfend wirken, z.B. mit Hilfe von Informationen über den Wert des Zuwartens oder über Risikoeinschätzungen und Nutzenabwä­gungen.
Wenn nicht ganz eindeutig ist, welche Behandlung angezeigt ist, holen Patienten bereits heute gerne eine Zweitmeinung zur Sicherung der Indikationsqualität ein, was von FMH-Mitgliedern unterstützt wird (Art. 16 der Standesordnung). Eine gesetzliche Pflicht zu einer Zweitmeinung würde hingegen die Patienten bevormunden und die Kosten erhöhen. Ebenfalls bewährt hat sich das Beziehen zusätzlicher Expertise in Indikationsboards, deren Notwendigkeit fallweise durch die beteiligten Fachpersonen bzw. ihre jeweiligen medi­zinischen Fachgesellschaften am besten beurteilt werden kann.
Da die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit einer medizinischen Leistung und damit die Erstattungspflicht der OKP nur auf Basis einer trans­parenten wissenschaftlichen Prüfung beurteilt werden kann, braucht es Health Technology Assessments (HTA) als solide Entscheidgrundlagen. Ebenso bieten medizinische Guidelines als Kondensate des aktuellen Wissenstandes das Potential, gleichzeitig die Kostenentwicklung zu dämpfen und die Qualität der Versorgung zu steigern. Abweichungen von solchen allgemeinen Leitlinien müssen jedoch zulässig bleiben, um v.a. mehrfacherkrankten Patienten gerecht werden zu können. Da evidenzbasiertes Handeln ausreichend ­valide Daten voraussetzt, tritt die FMH zudem für die Förderung medizinischer Register ein [9].
Bei allen Qualitätsmassnahmen gilt es die Verhältnismässigkeit des administrativen Zusatzaufwandes abzuwägen – und die Therapiefreiheit nicht anzutasten: Im Sinne von Ärzten wie Patienten darf eine fachlich korrekte Ausübung des Arztberufs keine Nachteile nach sich ziehen. Dies gilt auch in Bezug auf die in vielen Spitalarztverträgen verankerten Boni, die an rein ökonomische Indikatoren wie Mengen- und Umsatzziele gebunden sind. Spitäler mit mengenabhängigen Bonusvereinbarungen sollten von kantonalen Spital­listen ausgeschlossen werden.

Mit sachgerechter Tarifierung die ­ambulante Versorgung stärken

Auch die Tarifierung bietet Optimierungspotential, z.B. dort, wo gleiche Leistungen im ambulanten und stationären Bereich unterschiedlich vergütet werden. Die konsequente Umsetzung der Strategie «ambulant vor stationär» erfordert eine Stärkung der ambulanten Versorgung. Bei der Revision des TARMED ist darum 
die Wiederherstellung von Sachgerechtigkeit und betriebswirtschaftlicher Bemessung von zentraler Bedeutung – und notwendige Basis für Pauschalen im ­ambulanten Bereich. Weil dies am besten im Rahmen einer Tarifpartnerschaft gewährleistet werden kann, wird auch die Ärzteschaft ihren Beitrag zu einer er­folgreichen Tarifrevision leisten. Für die zukünftige Tarifpflege könnte ein nationales Tarifbüro analog SwissDRG hilfreich sein, sofern die Struktur- und Organisationsautonomie gewährleistet bleibt und der Bundesrat den Tarif auf Vorschlag der Organisation weiterhin lediglich genehmigt.

Administration reduzieren

Das Effizienzpotential, das eine Reduktion administra­tiver Arbeiten böte, sehen Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz täglich: Alleine die Bearbeitung von Patientendossiers nimmt 19% der Arbeitszeit der spitaltätigen Ärzteschaft in Anspruch und hat seit 2011 pro Arzt und Tag um 26 Minuten zugenommen [10]. Dass der Zeitbedarf allein für diesen Zuwachs an Dokumenta­tionsaufwand in den Spitälern 662 Arztstellen (bei 56 Wochenstunden) entspricht, sollte in Hinblick auf Nachwuchsmangel und Zulassungsregelung zu denken geben, denn auch im ambulanten Bereich nimmt die administrative Belastung stetig zu: Der ­Anteil der Grundversorger, die mindestens 75% ihrer Arbeitszeit mit Patientenkontakten verbringen können, sank zwischen 2012 und 2015 von 60 auf 45% [11]. Administration bindet Arbeitszeit und generiert Kosten. Dieses hohe Potential zur Kostendämpfung findet jedoch kaum politische Aufmerksamkeit.

Zulassung mittels Qualitätskriterien steuern

Die Politik setzt auf eine Regulierung der Ärztezahl, obwohl selbst von Kassenseite festgestellt wird, dass «zwischen Ärztedichte und ärztlichen Leistungen am Pa­tienten keine Korrelation» besteht und die «Ärztedichte als Mengen- und Steuerungsinstrument ungeeignet» ist [1]. Auch dass sich die Anzahl offener Arztstellen in den letzten vier Jahren hierzulande mehr als verdoppelt hat [12] und die Strategie «ambulant vor stationär» eine Förderung des ambulanten Bereichs erfordert, lässt die aktuell diskutierten Ansätze für Beschränkungen der praxisambulant tätigen Ärzteschaft wenig zielführend erscheinen.
Die FMH fordert als Zulassungsvoraussetzung deshalb weiterhin kumulativ zu erfüllende Qualitätskriterien, die Versorgungsqualität und ökonomisch wirksame Steuerung verbinden: Erstens ist eine dreijährige ärztliche Tätigkeit in der beantragten Fachdisziplin an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte zu absolvieren, zweitens muss der Fortbildungsnachweis und drittens ein Nachweis der Sprachkompetenz in der Amtssprache der Tätigkeitsregion erbracht werden. Die seit 2013 geltende Zulassungssteuerung hat be­-reits eine Reduktion der Praxiseröffnungen um 33% bewirkt. Die von der FMH vorgeschlagene deutlich strenge­re Regelung würde eine wirksamere Auswahl nach transparenten Qualitätsansprüchen erlauben, ohne die Wahlfreiheit der Patienten einzuschränken. Ande­re Vorschläge wie die Aufhebung des Vertragszwangs hingegen schaffen nicht nur die freie Arzt-wahl ab, sondern würden zudem die ökonomischen Ziele der Krankenversicherer zu stark gewichten und Kranke benachteiligen.

Fazit

Die aufgeführten Lösungsansätze zeigen, dass derzeit grosses Effizienzpotential insbesondere in den Strukturen oder bei der Finanzierung unseres Gesundheitswesens ungenutzt bleibt, das ohne Einbussen der Versorgungsqualität und ohne Einschränkungen der Wahlfreiheit der Patienten realisierbar wäre. In einer solchen Situation verbieten sich Massnahmen, welche die freie Arztwahl einschränken oder zur verdeckten Rationierung führen.
Dr. med. Jürg Schlup
Präsident der FMH
Elfenstrasse 18
Postfach 300
CH-3000 Bern 15
 1 Früh M, Gyger P, Reich O. Ausgabenentwicklungen in der Gesundheitsversorgung. Helsana-Report. Dezember 2016.
 2 Bericht der Expertengruppe. Kostendämpfungsmassnahmen zur Entlastung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. 24. August 2017.
 3 Pwc. Ambulant vor stationär. Oder wie sich eine Milliarde jährlich einsparen lässt. August 2016.
 4 BAG. Studie präsentiert erstmalige Berechnungen der direkten und indirekten Kosten der wichtigsten nichtübertragbaren Krankheiten. Bulletin. 2014;36(14):583–6.
 5 Huber CA, Reich O, Früh M, Rosemann T. Effects of Integrated Care on Disease-Related Hospitalisation and Healthcare Costs in Patients with Diabetes, Cardiovascular Diseases and Respiratory Illnesses: A Propensity-Matched Cohort Study. International Journal of Integrated Care. 2016;16(1):1–18.
 6 Klaus G. Dank einheitlicher Finanzierung mehr Effizienz.
Helsana Standpunkt. 2016;4:3–5.
 7 Bosshard C. Qualitäts-Charta: Transparenz, Verbindlichkeit und Nachhaltigkeit. Schweiz Ärztezeitung. 2016;97(45):1549.
 8 Die Position der FMH. «Choosing wisely»: Weniger Leistungen für mehr Nutzen. Verabschiedet durch den FMH-Zentralvorstand. Bern, 15. Dezember 2016.
 9 Positionspapier. Medizinische Register: ein wichtiges Instrument zur Sicherung der Qualität in der Medizin. Bern, August 2012.
10 Golder et al. Verändertes Arbeitsumfeld und Einstellung zu neuen Finanzierungsmodellen. Auswirkungen Leistungsorientierung im Gesundheitswesen erkennbar. Schlussbericht von gfs.bern zur Begleitstudie im Auftrag der FMH. Januar 2018.
11 OBSAN. Analyse des International Health Policy Survey (IHP). 2012 und 2015.
12 Schweizer Jobradar. Vakanzen-Report. 4. Quartal 2017 und 4. Quartal 2013 im Vergleich. URL: https://www.jobagent.ch/jobradar.