Umgang mit Sterben und Tod

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2018/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06539
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(10):304

Publiziert am 07.03.2018

Umgang mit Sterben und Tod

Brief zu: Kind C. Revidierte Richtlinien zum Umgang mit Sterben und Tod. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(49):1642–3.
In den revidierten Richtlinien der SAMW wird versucht, zwischen verschiedenen Wertvorstellungen zu vermitteln. Dies führt zu störenden logischen Widersprüchen. So lehnen die im Anhang erwähnten allgemein anerkannten Ziele der Medizin eine aktive Beendigung des Lebens ab. Standesethisch wäre somit von der ärztlichen Suizidbeihilfe klar Abstand zu nehmen. Stattdessen wird es dem einzelnen Arzt überlassen, ob dies für ihn selber mit den Zielen der Medizin vereinbar sei oder nicht. Damit wird einer moralischen Subjektivierung Vorschub geleistet und auf eine klare standesethische Position verzichtet. Die Richtlinien bleiben in wichtigen ­medizinethischen Fragen ambivalent. Die Aufforderung zur Respektierung berufsethischer Normen wird zur kraftlosen Worthülse. Auch die Aufnahme von SAMW-Richtlinien in die Standesordnung der FMH ändert nichts Entscheidendes, wenn angesichts nicht vertretbarer Praktiken bei der ärztlichen Sui­zidhilfe [1] keine klaren Konsequenzen ge­zogen werden.
Die etablierte Suizidhilfepraxis wird in der Schweiz nicht mehr ernsthaft hinterfragt. ­Zudem breitet sich eine Nivellierung ethischer Grenzen auch unter Medizinern aus. Man beachte dazu die Stellungnahmen von H. Stalder [2] oder von G. D. Borasio, der sich auch Suizidhilfe für Hochbetagte vorstellen kann [3]. Die neuen Richtlinien kennen eine allgemeine Ausweitung der Suizidhilfe auf Patienten mit Sterbewunsch [4]. Ältere Menschen und Lebens­müde mit «unerträglichen» Funktionsstörungen im Alltag werden angesichts der flexiblen Ausführungen davon nicht auszunehmen sein.
Medienpräsenz, Lobbyarbeit und semantische Veredelungen durch Suizidhilfeorganisationen (Freitod) verfehlen ihre Wirkungen nicht und haben zu einem Gewöhnungseffekt geführt.
Ein Blick über die Grenzen lohnt sich, wenn er nicht nur an Belgien, Holland oder Oregon haften bleibt. Stellungnahmen wie diejenige der Lehrstuhlinhaber für Palliativmedizin in Deutschland gegen den ärztlich assistierten Suizid oder der British Medical association gegen «all forms of assisted dying» [5] werden in der Schweiz vermisst.
Bei der Suizidhilfe gibt es zumindest bei schwer Behinderten praktische Übergänge zur Tötung auf Verlangen. Eine Studie über Entscheidungen am Lebensende in der Schweiz zeigt, dass 2013 trotz Verbot in 11 Fällen effektiv eine Tötung auf und in 25 Fällen gar ohne Verlangen erfolgt ist [6]. Dieser Befund ist bis heute stillschweigend übergangen worden.
Im aktuellen Paradigma des selbstbestimmten Sterbens besteht die Gefahr, dass der Arzt zum Dienstleister degradiert wird, etwa wenn ein urteilsfähiger Patient das Abstellen eines Respirators verlangt, und er im Grunde gegen seine eigene Überzeugung handeln soll. Hier zeigt sich auch die wenig beachtete Grauzone zwischen Absicht und In-Kauf-nehmen.
Kritisch ist auch die kontinuierliche Sedierung bis zum Tode wegen ihrer möglichen Statthalterfunktion für die Tötung mit oder ohne Verlangen. Trotz Hinweis auf fachliche Standards wird es schwierig, in diesem Kontext übliches medizinisches Handeln von aktiver Lebensbeendigung zu unterscheiden.
Max Horkheimer, Vertreter der Frankfurter Schule schrieb vor 48 Jahren: «Ohne Hinweis auf ein Transzendentes wird Moral zur Sache von Geschmack und Laune». Auch darüber wäre heute wieder nachzudenken.