Debiasing ist nicht genug

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2018/1314
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06628
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(1314):434

Publiziert am 28.03.2018

Debiasing ist nicht genug

Brief zu: Kovic M. Werkzeuge gegen kognitive Verzerrungen 
im klinischen Alltag. Schweiz Ärztezeitung 2018;99(6):185–7.
Im klinischen Alltag und insbesondere in der medizinischen Diagnostik sollte Denken systematisch und algorithmisch ablaufen. Tatsächlich folgt es aber meist Heuristiken und einfachen Faustregeln, weil dies weniger anstrengend ist. Eine absolut menschliche Tendenz, die jedoch oftmals zu Fehlern führt. Es ist daher wichtig, diese kognitiven Verzer­rungen zu reflektieren und zu vermindern (de­biasing).
Kognitive Verzerrungen sind allerdings nur einer von vielen Faktoren, die Entscheidungsfehlern im klinischen Alltag zugrunde liegen. So spielen oft sozialpsychologische Aspekte eine wichtige Rolle. Beispielsweise tritt bei Entscheidungen in hoch kohäsiven Gruppen die Neigung zum sog. Gruppendenken auf: Um Harmonie und Konsens innerhalb der Gruppe zu bewahren, werden abweichende Positionen unterdrückt – was zu schwerwiegenden Fehlentscheidungen führen kann.
Ein noch wichtigerer Faktor sind jedoch ungünstige Rahmenbedingungen in der Klinik oder Abteilung. Diese könnten verändert werden, ohne dass wichtige organisationsbezogene Ziele tangiert würden. So herrscht in manchen Abteilungen unnötig viel Stress, etwa wenn Ärzte durch zu viele nicht ärztliche Aufgaben überlastet werden oder abteilungsintern oder -extern unangemessener Zeitdruck erzeugt wird. Es ist aber bekannt, dass Stress zu sog. Notfallreaktionen des kognitiven Systems führt: Statt gründlich nachzudenken, wendet man dann bewährte, aber womöglich unpassende Routinen an und bekommt einen «Tunnelblick» – was leicht zu Fehlern führt. Oder: Die Arbeitszeit beträgt meist zehn oder – faktisch – noch mehr Stunden pro Tag. Jedoch nimmt der Grenznutzen der Arbeit nach einigen Stunden wegen Ermüdung stark ab, während die Fehlerrate überproportional ansteigt; zudem geht eine zu lange Arbeitszeit sowohl quantitativ als auch qualitativ auf Kosten der nachfolgenden Er­holungszeit, was dann mittel- und langfristig die Leistungsfähigkeit herabsetzt und somit wiederum die Fehlerquote erhöht.
Klinische und besonders diagnostische Arbeit ist zum grössten Teil kognitive Arbeit und der Mensch keine Maschine. Debiasing ist daher wichtig. Noch wichtiger ist jedoch, dass organisationale Rahmenbedingungen geschaffen werden, die dieser Art der Arbeit angemessen sind – und nicht solche beibehalten werden, deren leistungshemmende Wirkungen längst bekannt sind. Dadurch liesse sich die Fehlerrate viel stärker senken als durch debiasing ­allein. Und hiervon würden vor allem die ­Pa­tienten profitieren.