Versorgungsforschung: Wozu? – Deshalb!

FMH
Ausgabe
2018/1920
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06721
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(1920):610-611

Affiliations
a Dr. oec. HSG, Gesundheitsökonomische Beratungen AG, Küsnacht; b Dr. med., Vizepräsident und Departementsverantwortlicher Daten, ­Demographie und Qualität, FMH, Bern

Publiziert am 09.05.2018

Das schweizerische Gesundheitswesen ist aufgrund der sich wandelnden demographischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und aufgrund neuer Behandlungsstrategien einem dauernden Reformprozess ausgesetzt. Neue Versorgungskonzepte müssen entwickelt, umgesetzt und auf deren Nutzen hin überprüft werden. Eine nachhaltige und unabhängige Versorgungsforschung ist deshalb unab­dingbar. Aus Sicht der Versorgungsforschung ist es zentral, der Frage nachzu­gehen, wie aus Public-Health-Sicht besonders relevante Bevölkerungsgruppen versorgt werden.
Vor wenigen Tagen meinte die Chefin der grössten Krankenversicherungsgruppe der Schweiz, die soziale Krankenversicherung in Frage stellen zu können, indem sie Franchisen von 5000 bis 10 000 Franken forderte. Diese rein auf Umverteilung basierende Forderung verkennt bei bereits schon erreichten Spitzenwerten von Out-of-Pocket-Zahlungen in der Schweiz, dass es in einem Sozialversicherungssystem um andere, fundamentale Werte geht.
Wesentlich ist dabei nebst der Solidarität das Vertrauensprinzip. Auf diesem basiert die Arzt-Patienten-Beziehung und letztlich auch die Versicherten-Versicherer-Beziehung.
Prägend für die Vertrauensbeziehung sind die Spiel­regeln innerhalb des Systems und vor allem die Wirkungen des Systems. Für eine Sozialversicherung fundamental ist, dass bei Bedarf die versprochenen Leistungen auch zur Verfügung stehen und in notwendiger Qualität zweckmässig und wirtschaftlich erbracht werden. Dies fordert beispielsweise auch Art. 32 Abs. 1 KVG. Ähnliche Bestimmungen existieren in anderen Sozialversicherungszweigen und im Ausland.
Auch die vom Bundesrat verabschiedete Strategie Gesundheit2020 versuchte, diese Anliegen aufzunehmen. Durch die wiederholte Referenzierung auf die Strategie 2020 wurde zweifelsohne eine (vermehrte) Sensibilisierung für bestimmte gesundheitspolitische Priori­täten des Bundesrates geschaffen. Es kann davon ausgegangen werden, dass dadurch auch gewisse Signale ausgesendet wurden, welche den einen oder anderen gesundheitspolitischen Akteur dazu bewogen haben dürften, gewisse Schritte antizipierend im Sinne einzelner Elemente von Gesundheit2020 in die Wege zu leiten.
Doch nach einigen Jahren Erfahrung mit der Strategie werden auch deren Schwächen vermehrt erkennbar.
– Viele Ziele sind wenig operationalisier- und dadurch wenig erfahrbar für die Gesamtbevölkerung.
– Der Blick auf das Gesamtsystem fokussiert eher auf die gesundheitspolitischen Akteure als auf die Public-­Health-relevanten Zielgruppen.
– Das Instrument (nicht die Ideologie) des Wettbewerbs zur Förderung von Innovationen auf den Ebenen Produkte, Organisation und Prozesse wurde (fast) vollständig vernachlässigt.
– Obwohl in der Strategie Gesundheit2020 erwähnt wird, dass der Gesundheitszustand der Menschen in der Schweiz zu 60 Prozent von Umfeld- und Verhaltensfaktoren ausserhalb der Gesundheitspolitik bestimmt wird wie z.B. Bildung, sozialer Sicherheit, Arbeitssituation, Einkommen, Umwelt, Verkehr, Wohnsituation, bleiben die formulierten Ziele auf die 40 Prozent gesundheitspolitischer Faktoren beschränkt.
Aus Sicht der Versorgungsforschung ist es daher im Sinne des oben erwähnten Vertrauensprinzips zentral, der Frage nachzugehen, wie aus Public-Health-Sicht ­besonders relevante Zielgruppen versorgt werden. Werden diese nämlich gut versorgt, dürfte davon auszugehen sein, dass die Versorgung der gesamten Bevölkerung ebenfalls gute Werte annimmt.
Die besonders relevanten Zielgruppen können aus Public-Health-Sicht stichwortartig wie folgt zusammengefasst werden: ältere Menschen, sozial Schwache und kostenintensive Patienten.
Selbstverständlich kann es zwischen diesen Zielgruppen Überschneidungen geben; trotzdem sollten sie im Sinne der Transparenz und zur Verbesserung der Entscheidungsgrundlagen zuerst einzeln und dann erst auf ihre Wechselwirkungen hin analysiert werden.
Ein System, welches – wie es Gesundheitsökonom Uwe E. Reinhardt am Beispiel der USA formuliert hat – das beste Land der Welt ist, wenn man klug und gesund ist («Aber wenn man weder klug noch gesund ist, ist es hier hart»), ist versorgungspolitisch irrelevant.1
Versorgungsforschung muss sich daher auf die wesentlichen Zielgruppen fokussieren, bei welchen Handlungsbedarf besteht, der Markt nicht greift und wo viel für die Verbesserung der Lebensqualität gemacht werden kann. Da rechtfertigt sich staatliches Handeln.
Da, wo das Instrument des Wettbewerbs im Rahmen klarer Rahmenbedingungen funktioniert, ist diesem der Vorzug zu geben.
Versorgungsforschung richtet sich heute – gerade in der Schweiz – aber nach wie vor an vielen, auch staatlich geförderten, aber für die Versorgung sekundären Aspekten aus. Dies muss ändern. Versorgungsforschung erfüllt ihre Funktion nur, wenn sie das Salz in der Suppe ist.
Wenn die Hauptträger der Versorgung, Ärzteschaft, Therapeuten, Pflegende und andere Leistungser­bringer, diese Herausforderung nicht annehmen, dürfen sie sich nicht wundern, wenn der Staat interveniert. Ob dies dann besser kommt, darf mindestens in Frage gestellt werden.
Am 5. Zürcher Forum für Versorgungsforschung vom 5./6. Juli 2018 wird zum ersten Mal der Zürcher Versorgungsforschungspreis der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich vergeben. Der von der MediCongress GmbH organisierte Anlass wird seit Beginn von der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich und ihrem Vorsteher, Regierungsrat Dr. Thomas Heiniger sowie von der FMH unterstützt. Er beschäftigt sich dieses Jahr mit der Versor­gung älterer Menschen, sozial Schwacher und kosten­intensiver Patienten. Programm und Anmeldung unter www.medicongress.ch.
Willy Oggier
info[at]willyoggier.ch