Interessante Ähnlichkeit

Zu guter Letzt
Ausgabe
2018/22
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06746
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(22):740

Affiliations
Leiter und Chefarzt der Poliklinik (PMU), Leiter des Departements Sozial- und Grundversorgung der Universitätsspitäler Lausanne (CHUV),
Ordinarius für allgemeine Innere Medizin, biologische und medizinische Fakultät, Universität Lausanne

Publiziert am 30.05.2018

Die Agenda des 12. Jahreskongresses der französischen Allgemeinmedizin1 ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Der wissenschaftliche Ausschuss setzte den Schwerpunkt auf folgende Themen: 1) Die Medizin in der öffentlichen Debatte, 2) Pluriprofessionalität, 3) Andere Disziplinen und Gesundheitsinstitutionen, 4) Beteiligung der Patienten am gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozess.
Die Herausforderungen, mit denen sich die Medizin in der Schweiz konfrontiert sieht, sind verblüffend ähnlich.
Punkt 1: Die öffentliche Debatte. Die Generalisten wissen, dass der Arztberuf zu den angesehensten Berufen unserer westlichen Gesellschaften zählt. Die Meinung des Arztes wird respektiert, seine Stellungnahme zählt, sein Standpunkt in der öffentlichen Debatte ist wichtig. Für die Gesundheit der Bevölkerung muss er sich engagieren, Interessen vertreten. In diesem Sinne ist die klare, eindeutige Unterstützung der FMH zur eidgenössischen Volksinitiative «Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung» ein schönes Beispiel für berufliches Engagement im Dienste der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz.
Punkt 2: Die Pluriprofessionalität. In diesem Bereich blicken viele mit grossem Interesse auf die Schweiz. Es ist interessant zu sehen, mit welchem Interesse unsere französischen Kolleginnen und Kollegen die Entwicklung unserer medizinischen Praxisassistentinnen verfolgen. Ihr Präsident wird dieser Schweizer Besonderheit demnächst noch mehr Beachtung schenken, um herauszufinden, inwieweit sich das Modell auf Frankreich «übertragen» lässt! Der Mehrwert dieser beruflichen Ergänzung zum gesundheitlichen Nutzen für unsere Patientinnen und Patienten und für eine optimale Pflege von Patienten mit chronischen Erkrankungen wird sehr wohl erkannt.
Punkt 3: Die Verknüpfung mit anderen Disziplinen und Gesundheitsinstitutionen. Auch hier wurde erkannt, wie wichtig es ist, dass die Allgemeinmedizin die Brücke zu anderen Disziplinen schlägt. Sich als Fachärzte Anerkennung zu verschaffen sollte die Generalisten nicht davon abhalten, einen fachbereichsübergreifenden Ansatz in der Medizin und in der Pflege zu favorisieren. Die junge Generation der französischen Allgemeinmediziner, die am Kongress stark vertreten war, scheint diesem Ansatz besonders offen gegenüberzustehen.
Punkt 4: Beteiligung der Patienten am gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozess. Unsere französischen Kolleginnen und Kollegen haben beschlossen, die Rolle des Patienten in der Entscheidungsfindung neu zu überdenken. Symbolisch – und in meinen Augen sinnvollerweise – hat die Problematik der Früherkennung dazu geführt, dass diese Thematik angegangen werden konnte. Früherkennung erscheint immer attraktiver, als sie es in Wirklichkeit ist – sowohl für den Arzt als auch für den Patienten: Entwicklung in der Diagnostik ohne Veränderung in der Prognostik (lead time); Identifizierung indolenter Tumore, die ohne die Früherkennung niemals symptomatisch gewesen wären (overdiagnosis); Vorteil häufig ausgedrückt als Reduzierung des relativen Risikos, also vorteilhafter als in Form einer Reduzierung des absoluten Risikos (number needed to be screened); Image des Arztes als «jemand, der sich gut um seine Patienten kümmert», nicht nur im Krankheitsfall, sondern auch proaktiv. Unsere französischen Kollegen führen auch das Argument des vorgezogenen Bedauerns an, diese Furcht, im Nachhinein, wenn der Krebs erst einmal diagnostiziert wurde, bedauern zu müssen, die Krankheit nicht zu einem früheren Zeitpunkt antizipiert zu haben. An dieser Stelle wurde dann darauf verwiesen, wie wichtig es ist, den Patienten danach zu befragen, welche Rolle er in der Entscheidungsfindung einnehmen will. Unsere Haltung als Arzt wäre vielleicht anders, wenn uns der Patient sagt: «Nun, wenn Sie mir die Möglichkeit bieten, würde ich gerne gemeinsam mit Ihnen das Für und Wider dieses Tests abwägen», als wenn wir von den Patientinnen und Patienten gesagt bekommen: «Doktor, Sie sind der Arzt, Sie wissen es!» Die beiden Fälle zeigen auf unterschiedliche Weise das Vertrauen, das der Patient seinem Arzt entgegenbringt; dabei wissen viele Kolleginnen und Kollegen bereits sehr gut, mit dem sich ergänzenden Wissen beider Parteien umzugehen: Der Patient weiss, welche Werte und Präferenzen er hat, und der Arzt verfügt über das Fachwissen und den therapeutischen Bezug. Die Veranstalter wollten den Kongress für die Patienten öffnen und boten viel Raum, damit sie ihre Vision einer Arzt-Patient-Partnerschaft und ihre Vorstellung von der Beteiligung an der medi­zinischen Entscheidungsfindung teilen konnten.
Auch das für das Jahr 2019 geplante und vom Kollegium für Hausarztmedizin ausgerichtete Symposium der Romandie bietet den Patienten diesen Raum! Eine Dynamik, die einmal mehr die Aussage «Encouraging pa­tients to ask questions» unterstreicht [1].
Prof. Jacques Cornuz
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Tel. +41 21 314 47 32
Fax +41 21 314 60 99
Jacques.Cornuz[at]chuv.ch
Judson TJ et al. Encourag­ing patients to ask ques­tions – How to overcome «white-coat silence».
JAMA. 2013;309:2325–6.