Der wachsende Nutzen in der Medizin: Was erhält die Bevölkerung für die Gesundheitskosten?

Querschnittrehabilitation fördert den Weg zurück in ein aktives Leben

FMH
Ausgabe
2018/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06768
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(40):1354-1356

Affiliations
Dr. med., Clinique romande de réadaptation, Sion

Publiziert am 03.10.2018

Hochspezialisierte Rehabilitation verbessert nicht nur die Selbständigkeit und die Lebensqualität der querschnittgelähmten Patienten erheblich. Auch der ökonomische Nutzen ist hoch, wenn Patienten keine oder weniger Pflege- und Hilfsleistungen benötigen, ­weniger Folgekomplikationen entwickeln und durch ihre Berufstätigkeit höhere Berentungen entfallen.
In der Schweiz erleiden jedes Jahr mehr als 250 Menschen eine Querschnittlähmung: Mehrheitlich sind es junge Menschen mit Rückenmarkverletzungen, nach Verkehr- oder Arbeitsunfällen oder aber durch Sportunfälle vom Gleitschirmfliegen, Baden, Ski- und Velofahren oder Reiten. Die zweite gros­se Patientengruppe ist deutlich älter und erleidet eine Querschnitt­lähmung aufgrund einer Krankheit wie eines Bandscheibenvorfalles, eines Tumors oder einer fortschreitenden Erkrankung wie der Multiplen Sklerose.

Querschnittgelähmte Patienten sind ­mit vielen Herausforderungen konfrontiert

Eine Querschnittlähmung stellt eine enorme Her­ausforderung an die physische und psychische An­passungsfähigkeit eines jeden Betroffenen und seines Umfeldes. Die durch die Verletzung des Rücken­marks verursachten Verluste von Bewegungsfähigkeit und Sensibilität stellen für die betroffenen Personen eine deut­liche Einschränkung in ihrer Alltagsbewältigung dar und bringen das ganze bisherige Leben aus dem Lot.
Darüber hinaus verursachen Querschnittlähmungen eine ganze Reihe an erheblichen, aber weniger sichtbaren Komplikationen, welche jedoch lebens­bedrohlich werden können. Neben Ausfällen oder Einschränkungen der Blasen-, Darm- und Sexualfunktionen können aufgrund der fehlenden Mobilität und der langen Liege- oder Sitzzeiten Druckgeschwüre (Dekubitus) entstehen, welche die Patienten zu mehrwöchigen Hospitalisationen zwingen können. Häufig entwickelt sich auch schon sehr früh eine erhöhte Muskelspannung, die unerwünschte und störende Haltungen erzwingt (Spastizität, Kontrakturen) und Schmerzen, was nur durch Medikation in einem erträglichen Rahmen gehalten werden kann. Ebenfalls häufige Folgen sind sozialer Rückzug und depressive Störungen.
Noch weitere, weniger bekannte Komplikationen treten bei einer Verletzung des Nervensystems öfter auf: So kann durch die Entgleisung im autonomen Nervensystem der Blutdruck sehr tief sein (orthostatische ­Hypotonie) oder hoch hinaus schiessen (autonome Dysreflexie), die Knochen werden aufgrund der fehlenden Belastung dünn (Osteoporose) und brüchig (Frakturen), und die wenig bewegten Gelenke können ­verknöchern (heterotrope Ossifikationen). Je nach ­Lähmungshöhe können schon sehr früh Herz- und Lungen-Funktionsstörungen auftreten. Durch die ­fehlenden Muskelbewegungen entstehen tiefe Beinvenenthrombosen, aus denen sich eine tödliche Lungenembolie entwickeln kann. All diese Probleme schränken die Lebensqualität und bis heute auch die Lebenserwartung der Betroffenen ein. Sie verringern darüber hinaus Autonomie und Mobilität und stören die Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben erheblich [1].

Der medizinische Fortschritt bringt heute deutlich bessere Behandlungsergebnisse

Vor dem Hintergrund dieses komplexen Bildes ist die Betreuung querschnittgelähmter Menschen vom Auftritt der Lähmung bis zum Lebensende anspruchsvoll. Die Fortschritte seit Beginn der systematischen medizinischen Betreuung im Zweiten Weltkrieg sind beeindruckend. Die Lebenserwartung Querschnittgelähmter hat sich zwischen 1950 und 1980 deutlich verlängert [2], unter anderem durch die Entwicklung der Blasen­katheter und der damit verbundenen Möglichkeit ­einer regelmässigen und gesicherten Blasenentleerung, welche die frühe Entwicklung eines oftmals tödlichen Nierenversagens verhindern. Neueste Daten ­zeigen ein Anhalten dieses Trends, wenn auch in kleinerem Ausmass. Dass dabei der spezialisierten Betreuung in Querschnittzentren eine wichtige Rolle zufällt, zeigen bereits Arbeiten aus den 1990er Jahren. Eine ­rasche Verlegung (i.e. <30 Tagen) von Menschen mit traumatischer Rücken­marklähmung in ein Spezialzentrum hat zur Folge, dass die Patienten seltener sterben, weniger und leichtere Komplikationen erleiden und dennoch kürzere stationäre Behandlungen in Anspruch nehmen [3, 4].
Die Betreuung im Spezialzentrum ist nämlich genau auf die Bedürfnisse dieser Patienten zugeschnitten. In der ersten Phase müssen die Frühkomplikationen nach Auftreten der Querschnittlähmung erkannt und abgefangen werden. Dies bedarf einer spezifischen Ausbildung des Fachpersonals. Querschnittgelähmte Menschen müssen in einer zweiten Phase lernen, mit ihrem veränderten Körper umzugehen und die hierfür nötigen Massnahmen selbständig durchzuführen. Dabei müssen sie viel Arbeit und Geduld in die möglichst grosse Verbesserung ihrer Lähmung investieren, was nur in der genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Struktur eines Spezialzentrums erfolgen kann. Dar­über hinaus müssen Spätkomplikationen möglichst verhindert werden, indem jeder Querschnittgelähmte lernt, deren erste Anzeichen zu erkennen und ihnen mit dem richtigen Verhalten zu begegnen. Dafür werden sie vom Fachpersonal begleitet und geschult.
Die vielfältigen Auswirkungen einer Rückenmarkverletzung auf die Gesundheit machen die medizinische Betreuung besonders komplex und anspruchsvoll. Die WHO hat die Querschnittversorgung als hochspezialisiert anerkannt und hält ihre Fortschritte, vor allem in Bezug auf das Überleben der Patienten, ihre Selbständigkeit, ihre Lebensqualität und das Zurückfinden ins Berufsleben fest [5]. So erlaubt die Querschnittrehabilitation in spezialisierten Zentren den Betroffenen häufiger eine Rückkehr in ihr soziales Umfeld bzw. zu ihren Familien, so dass weniger Platzierungen in Heimen und anderen Pflegeinstitutionen erfolgen müssen [6]. All diese Fortschritte konnten vor allem durch die ­lebenslange Nachbetreuung der Patienten in spezialisierten Sprechstunden von Querschnittspezialisten erreicht werden.
Die beschriebenen sekundären Komplikationen sind in den ersten Jahren nach Eintritt der Querschnittlähmung sehr häufig und können tödlich enden, wenn sie nicht rasch erkannt und optimal behandelt werden. Aber auch nach dieser ersten Phase können sich ­allmählich ­Spätkomplikationen entwickeln, deren Verlauf bei korrekter Nachsorge, verlangsamt werden kann. Hierzu müssen speziell ausgebildete Fach­personen die Patienten regelmässig und systematisch kontrollieren, spezifische Screening-Untersuchungen durchführen und im Gespräch mit Patienten und ­ihrem Umfeld die nötigen Anpassungen empfehlen, besprechen und einleiten. Dies verleiht der lebens­langen Nachsorge in einem gut koordinierten, interdisziplinären Setting in spezialisierten Institutionen grosse Bedeutung [7]. Nur so können die Autonomie, die Lebensqualität, die Inklusion und die Teilhabe ­unserer querschnittgelähmten Mitmenschen unter bestmöglicher Bewahrung ihres Gesundheitszustandes gewährleistet werden, so dass sie ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen und halten können.
Für querschnittgelähmte Patienten wird in den nächsten Jahren entscheidend sein, welche Weichen die Gesundheitspolitik stellt. Änderungen des Tarifsystems, die zu stark auf kurzfristige Effekte zielen, könnten die ganzheitliche Versorgung, wie sie von der WHO und der ISCoS [8] empfohlen wird, gefährden. Würden die durch eine Querschnittlähmung verursachten hohen Kosten [9] weiterhin übernommen? Das heute hohe Qualitätsniveau in der Akut- und langfristigen Behandlung Querschnittsgelähmter resultiert aus den Anstrengungen der letzten 50 Jahre seit 1963 das erste Querschnittzentrum in Genf eröffnet wurde und nähert sich den Zielen der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen [10], die die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Eine Eingrenzung des Zuganges zu spezialisierten medizinischen Leistungen wäre eine ethische und moralische Niederlage. Der wachsende Druck auf Institutionen und Leistungserbringer könnte die Anstrengungen zur Verbesserung der sozialen Integration und Lebensqualität der Patienten und ihrer Familien ausbremsen. Dies hätte mittel- und langfristig auch auf volkswirtschaftlicher Ebene negative Auswirkungen, da mehr gesundheitliche Komplikationen, Arbeitsausfälle und Invaliditätsrenten höhere Kosten verursachen würden.
X. Jordan, Präsident
Schweizerische Gesellschaft für Paraplegie SSoP
info[at]ssop.ch
 1 Kemal Nas, et al. Rehabilitation of spinal cord injuries. World J Orthop. 2015 Jan 18;6(1):8–16. Published online 2015 Jan 18. doi: 10.5312/wjo.v6.i1.8.
 2 Savic, G. et al. Long-term survival after traumatic spinal cord injury: a 70-year British study. Spinal Cord. http://dx.doi.org/10.1038/sc.2017.23 (2017).
 3 Parent S, et al. The impact of specialized centers of care for spinal cord injury on length of stay, complications, and mortality: a systematic review of the literature. J Neurotrauma. 2011 Aug;28(8): 1363–70. doi: 10.1089/neu.2009.1151. Epub 2011 May 25.
 5 «Preventable secondary conditions (e.g. infections from untreated pressure ulcers) are no longer among the leading causes of death of people with spinal cord injury in high-income countries» [WHO Fact sheet No. 384 Spinal Cord Injury. http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs384/en/].
 6 Cheng CL, et al. Does Specialized Inpatient Rehabilitation Affect Whether or Not People with Traumatic Spinal Cord Injury Return Home? J Neurotrauma. 2017 May 24. doi: 10.1089/neu.2016.4930 [Epub ahead of print].
 7 Adriaansen JJ, et al. Secondary health conditions in persons with spinal cord injury: a longitudinal study from one to five years post-discharge. J Rehabil Med. 2013 Nov;45(10):1016–22. doi: 10.2340/ 16501977-1207.
 8 International Perspectives on Spinal Cord Injury 2013.
10 Convention on the Rights of Persons with Disabilities – Implementation in Switzerland.