Die politisch-ökonomische Gesellschaft schläft – oder ist sehr kurzsichtig

Neues vom Klima (und vom ­Kollaps?)

Zu guter Letzt
Ausgabe
2018/2829
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06800
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(2829):958

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 10.07.2018

In der Revue médicale suisse (RMS) vom 18. April [1] bezieht sich Bertrand Kiefer auf verschiedene Artikel im New Scientist vom 20. Januar 2018, u.a. auch auf einen mit dem Titel «There are disturbing hints that Western civilization is starting to crumble». Darin heisst es: «Ja, wir erleben den Anfang vom Ende – wir stehen vor einem Kollaps. Die globalisierte westliche Zivilisation ist nicht stabil – u.a. bedingt durch einen Verlust an Komplexität […] Entweder wir reduzieren unsere Abhängigkeit von den fossilen Brennstoffen, verringern die Ungleich­heiten und finden Mittel und Wege zur Bereinigung von Konflikten oder wir gehen unter.» Welt­untergangspropheten hat es natürlich schon immer gegeben, aber wissenschaftsbasierte Berufe und Branchen – wie die unsere – können diese ernsthaften Warnungen nicht ständig unter dem Vorwand der Emo­tionalität von sich weisen. Es gilt, die vorgebrachten Argumente sorgfältig zu prüfen. In der genannten RMS nimmt Alex Mauron [2] die postmoderne Wissenschaftskritik auseinander und spricht von einer auf politi­schen Populismus gestützten Wissenschaftsfeindlichkeit: «Im Amerika der Ära Trump zeigt sich die Verleugnung der vom Menschen verursachten Klimaerwärmung als offenkundigste Herausforderung.»
Vor kurzem nahm ich an einer Veranstaltung der Lausanner «Swiss Youth for Climate» teil, die sich zu diesem Zweck mit den Klima-Grosseltern Schweiz (derzeit ein Westschweizer Verband, der sich jedoch auch in die Deutschschweiz ausweiten sollte) traf [3]. Die SYFC (siehe auch deren interessante, dreisprachige Website): «Als erste, globalisierte Generation werden wir die Auswirkungen der heute getroffenen Entscheidungen der Klimapolitik erleben. Daher haben wir Jungen das Recht und die Pflicht, Teil der Verhandlungen zu sein sowie angehört und informiert zu werden.» Gezeigt wurde die zweite, im Jahr 2017 in die Kinos gekommene Klimadokumentation von Al Gore, An inconvenient sequel («Immer noch eine unbequeme Wahrheit – Unsere Zeit läuft»). Das Engagement, das der ehemalige US-Vizepräsident aufbringt, um die Welt für die Dringlichkeit der Lage zu sensibilisieren (im Besonderen auch sein eigenes Land, das in den Fängen von Klimawandel-Leugnern steckt), ist bemerkens­wert. Die anschliessende Diskussion mit der bekannten Schweizer Klimatologin Martine Rebetez, dem Physiker Jean-Claude Keller und Marine Decrey von den SYFC folgt den politischen Themen, darunter u.a. Desinvestitionen bei fossilen Brennstoffen, ein starkes Instrument zur Herbeiführung des Wandels (mit den Mitteln der Ökonomie selbst), für das sich die Klima-­Allianz Schweiz starkmacht. Dabei sehen sich die Beteiligten jedoch einem starken, häufig verdeckten Lobbyismus jener Kreise gegenüber, deren Interessen durch einen echten Energiewandel betroffen wären. Gearbeitet wird mit den üblichen Mitteln: verzerrte Darstellung der Fakten, Disqualifizierung von Personen und ­irreführende Behauptungen. Es manifestiert sich unsere Tendenz, im kurzfristigen Denken zu verharren und dabei nicht wissen zu wollen, wohin uns der Zug der (Post-)Moderne rasend führt. Kiefer: Wir verbleiben «im Stadium der halluzinierten Negierung … der hochmütigen Arroganz gegenüber der Realität». Kurzsichtigkeit auf Seiten der Wirtschaft und auf Seiten der Politik.
Ein wichtiger Begriff in diesem Zusammenhang ist der des «tipping point» (Umschlagspunkt). Darauf beziehen sich die Warnungen im New Scientist. Es geht um jenen Moment, an dem die Dynamik des Klimawandels nicht mehr umkehrbar ist. Dann würde ein Mechanismus mit irreversiblen Konsequenzen ausgelöst. Dieses Risiko haben jedoch die wenigsten auf ihrem Radar.
Wir können aber auch auf einen anderen «tipping point» hoffen, den der öffentlichen Meinung. Früher oder später wird man angesichts der «fake news» von Trump und seinesgleichen erkennen, dass der «König nackt ist». Daraus könnte sich eine Dynamik ent­wickeln, die unseren Planeten wieder auf eine lebensfähige Bahn bringen könnte. Der Wissenschaftshis­toriker Thomas S. Kuhn sagt, dass wir Revolutionen (wissenschaftliche, soziale) in der eigenen Gesellschaft nur verzögert erkennen. Vielleicht ist die Revolution mit den notwendigen Veränderungen bereits auf den Weg gebracht, aber noch nicht manifest? … Die Jungen der «Swiss Youth for Climate» und ihr Drang nach Veränderung sind bereits sichtbar – und ermutigend!
jean.martin[at]saez.ch
1 Kiefer B. Un étrange pressentiment de catastrophe. Revue médicale suisse. 2018;14:864.
2 Mauron A. Les deux anti-sciences. Revue médicale suisse. 2018;14:859.
3 Martin J. «Grosseltern für das Klima». Schweiz Ärztezeitg. 2014;95:1714.