Saukralle

Horizonte
Ausgabe
2018/32
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06852
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(32):1040

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 07.08.2018

Es gibt Dekodierhilfen, die das Entziffern ärztlicher Handschriften, zum Beispiel bei Rezepten, erleichtern. Warum das medizinische Gekritzel vieler Kollegen und Kolleginnen besonderer Übersetzungshilfen bedarf, oder es sich nur um ein gehätscheltes Vorurteil handelt, wäre ein Thema für die schriftpsychologische Forschung. Gemäss der Schweizerischen Gesellschaft für Graphologie ist die Handschrift eine Körpersprache wie Mimik, Gestik und Stimmlage.
Die Diskussion um die richtige Schrift der ABC-Schützen hat wieder Fahrt aufgenommen, denn an vielen Schulen lernen die Schüler keine Schreibschrift mehr. Die meisten Kantone haben die «Schnürlischrift», die zusammenhängende Schreibschrift, abgeschafft. Bei der neuen Basis- oder Grundschriftschrift sollen getrennte Grundformen später verbunden werden. Die Neuerung ist umstritten, profitieren dürften vor allem Linkshänder. Ob aus einigen kleinen Häkchen an lateinischen Druckbuchstaben, ohne Anleitung und Training, eine flüssige Schreibschrift wird, oder mit der Reform gleich eine Kulturtechnik entsorgt wird, ist umstritten. Für die einen zählt nur noch die Tas­taturbedienung am Computer, andere haben gute Argu­mente für eine Schriftdidaktik mit positiven Auswirkungen auf Merkfähigkeit, Lernen, Sprach- und Rechtschreibekompetenz. Seit die Schönschrift nicht mehr benotet wird, verkümmern, gemäss vielen Studien, die feinmotorischen Fähigkeiten. Wer mit der Hand schreibt, beschäftigt 30 Muskeln, 17 Gelenke und Hirnregionen, die für Motorik, Sensorik, Sprache und kreatives Denken zuständig sind. Ein lebenslänglicher, schöpferischer Akt, dem Bildermalen verhaftet, ein varian­tenreicher Ausdruck von Individualität. Studenten, die Vorlesungen von Hand notieren, müssen das Gehörte übertragen und neu strukturieren, was dem Erinnern hilft und weniger Worte braucht als die Mitschrift am Laptop. Die Magie der Handschrift hat bisher auch die Digitalisierung überlebt. MyFont.de bietet ein Archiv für kostenlose Schriftarten, unter anderem auch für ein Schriftbild nach Kafka oder Rilke. Coaching-Kurse für Manager sollen die Karriere fördern, wenn graphologische Gutachter das Persönlichkeitsprofil von Bewerbern prüfen. Mindestens eine knallige Unterschrift sollte es schon sein. Dazu gibt es teure Edelfüller, die den Erfolgreichen vom Durchschnitt abgren­zen. Eine Saukralle kann den angestrebten Job kosten. Die Experten analysieren das Schriftbild, als Spiegel der Persönlichkeit, nach Girlanden und Bögen, nach Rhythmus, Links- oder Rechtsneigung, Abständen zwischen den Wörtern und vielem mehr.
Graphologie hin oder her, das handschriftliche Dokument ist etwas Sinnliches. Je älter, desto besser, zurück bis zu Urgrossmutters deutscher Sütterlinschrift, die sie mit Stahlfeder und Tinte schrieb oder kratzte. Was soll eine Liebeserklärung auf WhatsApp? Was bleibt von Timeline bei Facebook übrig? Schuhkartons im Keller oder Estrich beinhalten die persönlichen Archive vergangener Liebschaften und Tagebuchergüsse, von Glückwünschen, Einladungen und Ansichtskarten. Fleckige Couverts, Briefmarken und extra leichte Luftpostbriefe erzählen eine eigene Geschichte. Manche Papierbögen sind dezent gefärbt oder bleiben über Jahrzehnte parfümiert, Freundschaften werden aufgekündigt, ein altes Schulheft zeugt vom langen Weg zur eigenen Körpersprache. Die Experten sprechen von der graphomotorischen Entwicklung und meinen den Weg vom Zeilengekritzel des schulreifen Vierjährigen bis zur eigensinnigen Hieroglyphe schreibentwöhnter Kollegen.
Leserlich sind die Texte im privaten Schachtelarchiv mehr oder weniger alle, dank einem analogen Zeit­alter, das mit viel Aufwand die verbundene Schreibschrift förderte.
erhard.taverna[at]saez.ch