68. Lindauer Nobelpreistage vom 24. bis zum 29. Juni 2018

Fakenews

Horizonte
Ausgabe
2018/34
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06928
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(34):1123-1124

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 22.08.2018

Der Montagabend ist traditionell ein besonderer Abend. Rund sechshundert Nachwuchswissenschaftler, neununddreissig Nobelpreisträger und Gäste sitzen in der Bayrischen Halle der neu erbauten Inselhalle an festlich gedeckten Tischen. Zwei Damen in Hot Pants, Ying und Ling, lassen auf Zehenspitzen Sonnenschirme in den blau-weissen Landesfarben rotieren. Gräfin ­Bernadotte begrüsst den Vizepräsident der chi­ne­sischen Wissenschaftsstiftung, bevor die Ess­stäb­chen zum Einsatz kommen. Ein langer kulinari­scher Weg zur abschliessenden Polonaise. 84 Länder sind vertreten, Gastgeber ist China, ein Viertel der jungen Forscher und Forscherinnen kommen aus dem fernen Osten.
Das vielseitige Programm der 68. Lindauer Nobelpreistagung ist der Medizin und der Physiologie gewidmet. Schwerpunkte sind der zirkadiane Rhythmus, ­Herausforderungen der personalisierten Medizin, die Zukunft der Grundlagenwissenschaften, die Gene­tik der Krebs­entstehung, Immuntherapie und Aktivitäten in Entwicklungsländern. Von den drei medizinischen Nobelpreisträgern 2017 stellen sich zwei einer Pressekonferenz. Der Dritte reise ungerne und sei lieber bei seinen sieben Hunden in Maine geblieben. Die Grundlagen für ihre Forschungen wurden in den 1970er- und 89er-Jahren gelegt. Die Vorläufer-Entdecker der genetischen Grundlagen sind gestorben, die ihnen folgenden Chronobiologen haben an Fruchtfliegen und Mäusen die molekularen Mechanismen offengelegt. Alles Leben auf der Erde ist der Rotation des Planeten angepasst. Diese innere Uhr steuert den Schlaf, den Stoffwechsel, Hormonzyklen, Köpertemperatur und Bluthochdruck. Ein Problem, wenn zunehmend mehr Menschen bei künstlichem Licht arbeiten.
Wie ein roter Faden durchzieht die Sorge um die ­öffentliche Akzeptanz der Naturwissenschaften die vielen Vorlesungen und Rundtischgespräche bis zu ­Science in a Post-Factual-World am Abschiedstag. Fake News ist ein Sorgenthema trotz unzähliger Formen der Wissenschafts-Kommunikation, von langen Museums­nächten, über Brain Days, Technoparks und Programmen wie «Jugend forscht». Der Wissenschaftsbarometer Schweiz spricht entgegen dem Eindruck, den die Medien erzeugen, von einem stabilen Vertrauen, vor allem in die Universitäten. Unternehmen wie Citizien Science haben keine Mühe, Laien als wissenschaftliche Partner zu gewinnen, seien es astronomische Datensammler, Patientenkoalitionen der Krebsliga oder Mikroben­jäger der Bauchnabelregion. Die UNESCO vergibt jährlich den Kalinga-Preis für die Populari­sierung der Wissenschaft. Doch mehr ist nicht unbedingt besser, wenn man sich bewusst ist, dass Fakten keine Werte und Wissen keine Haltung erzeugen. Seit der Anti-Atom-Bewegung werden Innovationen hinterfragt. Kontroversen um Klimaschutz, Bio-, Nanotechnologie und Impfungen zeigen klar, dass demokratische Entscheidungen immer auch auf Werten, Inter­es­sen, Meinungen und Erfahrungen beruhen. Nur im utopischen Nova Atlantis von Francis Bacon bestimmt ausschliesslich das Labor die Politik. Für Parteien und Behörden sind Fakten bestenfalls eines von vielen Argumenten. Aus den Lindauer Tagungen wird eine Charta mit Tipps für den richtigen Umgang mit der Öffentlichkeit und ihren Vertretern hervorgehen. Sie will der tiefsitzenden Skepsis mit Richtlinien und gut gemeinten Ratschlägen begegnen. Wo Menschen im Alltag zunehmend Geräte bedienen, die sie nicht verstehen, wird das schwierig. Das aktuellste Beispiel ist die Eigendynamik einer Digitalisierung aller Lebensbereiche auf die der Einzelne längst keinen Einfluss hat.
Ein milder Sonnenabend vergoldet den Stadtpark. Möven kreischen vom nahen Ufer. Auf der ganzen Insel duftet es nach Lindenblüten. Im einzigen Kino wird ­Jurassic World, das gefallene Königreich gezeigt. Popcorn-Kino, ohne Zweifel, mit zumindest einer brillanten Szene, in der die eingefangenen Saurier an einer Auktion in Käfigen vorgeführt und versteigert werden. Für die tobenden Dinos hinter Stahlgittern interessieren sich Militärs, Vertreter der Unterhaltungs- und Pharmabranche und Spekulanten. Ein schönes Gleichnis für die gesellschaftlichen Kräfte, die alle technischen Entwicklungen vorantreiben. Die Hoffnungsträger im Kongresshaus nebenan werden es nicht leicht haben.
erhard.taverna[at]saez.ch